Georg war entsetzt, als Joseph Papst wurde: „Ich hatte gehofft, dass der Kelch an ihm vorübergeht.“ Vor 20 Jahren gehörte eine Schwester zur Familie.

Rom. Das Foto ist vielsagend: Es zeigt ein Brüderpaar, das den Primizsegen spendet, den ersten Segen als neu geweihte katholische Geistliche in ihrer Heimatpfarrei. Der eine schaut ernst, irgendwie weltabgewandt, den Blick gesenkt, der andere lächelt, die Augen strahlen die Freude regelrecht in die Welt hinaus. Der eine ist Joseph Ratzinger, 84, seit 2005 Papst Benedikt XVI., der andere Georg Ratzinger, 87, 30 Jahre lang Domkapellmeister in Regensburg und Leiter der weltberühmten Domspatzen. Am 29. Juni feiern beide Brüder den 60. Jahrestag ihrer Priesterweihe. So waren sie immer: Der eine in sich gekehrt und ganz der Wissenschaft verschrieben, der andere lebensfroh und leutselig. In ihrer gemeinsamen Zeit im Traunsteiner Knabenseminar hatten sie Spitznamen. Der eine hieß Bücherratz, weil er sich schon damals in jeder freien Minute in dicke Wälzer vertiefte, der andere Orgelratz, weil er nicht vom Harmonium oder der Orgel wegkam.

Beide trennt die Verschiedenheit des Gemüts, doch beide verbindet Kunstsinnigkeit, das schlohweiße Haar, ein ausgeprägter Familiensinn und tiefe Gläubigkeit. In Zeiten des Priestermangels kommt es heute kaum mehr vor, dass zwei Brüder sich für den Beruf eines Geistlichen entscheiden, und schon gar nicht, dass sie gemeinsam geweiht werden. „Das ist ein Tag von ganz besonderem Gewicht, der für das ganze Leben entscheidend ist“, erinnert sich Georg Ratzinger an den Tag seiner Weihe. „Ein ganzes Bündel von Gefühlen taucht da auf." Beide Brüder machen rasch Karriere. Joseph wird schon früh Professor für Dogmatik an der Universität Bonn. 1962 holt ihn der damalige Kölner Kardinal Joseph Frings als Berater. Der junge Theologe schreibt die Reden, die Frings beim Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom hält. Ratzinger fällt damals als eher progressiver Kirchenmann auf.

Nach weiteren Hochschulstationen in Münster, Tübingen und Regensburg wird er 1977 zum Münchner Erzbischof ernannt und noch im selben Jahr Kardinal. Fünf Jahre später macht ihn Papst Johannes Paul II. in Rom zum Präfekten der Glaubenskongregation und damit zu seinem engsten Mitarbeiter. Am 19. April 2005 – drei Tage nach seinem 78. Geburtstag – wählen die Kardinäle Joseph Ratzinger zum Papst.

Nicht minder steil verläuft die Karriere des älteren Bruders Georg. Er hängt nach Priesterweihe und Kaplansjahren noch ein Kirchenmusikstudium samt Meisterdiplom in München an. Erste Station ist 1957 das Amt des Chordirektors in Traunstein – Rückkehr in die geliebte oberbayerische Heimat. Doch schon 1964 folgt der Ruf als Domkapellmeister und Leiter der Domspatzen nach Regensburg. 30 Jahre lang verantwortet er die Kirchenmusik am Dom St. Peter und reist mit dem Knabenchor um die halbe Welt. In seine Ära fallen die Feiern zum tausendjährigen Bestehen des Chores.

Als Georg Ratzinger im Sommer 1994 sein letztes Domamt dirigiert, kommt sein Bruder aus Rom und hält den Abschiedsgottesdienst. „Der liebe Gott hätte mir keine schönere Aufgabe geben können“, blickt der Honorarprofessor später auf seine Doppelberufung als Priester und Kirchenmusiker zurück. Zu allen Jubiläen und runden Geburtstagen haben sich die Brüder Georg und Joseph gegenseitig besucht. Bis zu ihrem Tod 1991 gehörte auch Schwester Maria dazu, die Joseph Ratzinger jahrzehntelang den Haushalt führte.

Als am Abend des 19. April 2005 der Ruf „Habemus Papam“ über den Petersplatz in Rom schallt und der Name von Joseph Ratzinger fällt, sackt der ältere Bruder in seinem Fernsehstuhl daheim kreidebleich zusammen. Sofort wird ihm klar, was die Stunde geschlagen hat: Er hat den Papst zum Bruder, alles Private muss von nun an zurückstehen. Er ist tief getroffen, hängt das Telefon aus, igelt sich ein. Für einige Stunden ist er nicht einmal für den neu gewählten Papst zu sprechen.

Doch eine Nacht später hat sich Georg Ratzinger schon wieder gefangen. „Ich hatte gehofft, dass der Kelch an ihm vorübergeht“, sagt er in die Fernsehkameras und fügt fast vergnügt hinzu: „Auch wenn mein Bruder nun Papst ist, er bleibt für mich der Joseph.“

Sein Wunsch nach einer direkten Telefonverbindung zur Wohnung des Papstes wird rasch erfüllt. Über eine Geheimnummer können die beiden jederzeit miteinander „ratschen“. Sie redeten dann über Belangloses wie das Wetter daheim oder gemeinsame Bekannte, verrät Ratzinger.

Dass der Ex-Domkapellmeister sich trotz der Prominenz seines Bruders nicht verbiegen ließ, beweist ein verbürgter Wortwechsel auf dem Regensburger Domplatz: „Sind Sie der Bruder vom Ratzinger?“, fragte eine junge Frau den alten Herrn im Vorbeigehen. Seine Antwort: „Ich bin der Ratzinger.“

Als im Zuge des Skandals um Missbrauch und Misshandlungen an kirchlichen Einrichtungen Anfang 2010 auch Fälle bei den Regensburger Domspatzen bekannt werden, macht Georg Ratzinger reinen Tisch: Er bekennt, dass auch er Buben in Chorproben die eine oder andere Ohrfeige verpasst hat. Seine späte „Beichte“ bringt ihm Respekt ein, während andere Kirchenmänner Verfehlungen hartnäckig abstreiten.

Die Verbundenheit der Brüder lebt beim 60. Priesterjubiläum auf. Auch wenn ihm das Gehen mittlerweile schwerfällt und er fast erblindet ist, fliegt der Ältere zum Jüngeren nach Rom. Gemeinsam feiern sie am 29. Juni auf dem Petersplatz einen festlichen Dankgottesdienst. Den August verbringen beide Brüder dann gemeinsam in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo vor den Toren Roms. (dpa)