Für das Albert-Schweitzer-Viertel in Winsen wurde ein Sanierungsplan entwickelt. Experten rechnen mit Kosten in Millionenhöhe.

Winsen. Alev Öze* atmet tief durch. Dann steht sie auf, den Kopf hält sie gerade, den Blick geradeaus gerichtet. 30 Augenpaare starren die zierliche Frau an. "Wir brauchen den Spielplatz, im Viertel leben so viele Kinder - wo sollen die sonst spielen?", sagt sie in gebrochenem Deutsch. Es ist der 15. März, die Diskussion im Planungsausschuss in vollem Gange. Am Ende der Diskussion wird die CDU-Fraktion ihren Antrag, den Spielplatz im Winsener Albert-Schweitzer-Viertel abzureißen, zurückziehen. Ein großer Erfolg für die Bewohner der Plattenbau-Siedlung - und das erste Mal, dass sie sich und ihre Belange in der Öffentlichkeit selbst vertreten haben.

Seit fast zwei Jahren ist das Viertel zwischen der Albert-Schweitzer-Straße und dem Humboldtweg Sanierungsgebiet - gehört zum Projekt "Soziale Stadt". Ein aufwendig aufgestellter Rahmenplan empfiehlt, was hier verbessert, erneuert, saniert werden muss. Welche Maßnahmen davon umgesetzt werden können, soll jetzt im Einzelnen geprüft werden. Die Liste ist lang. Die Sachverständigen gehen von einem Investitionsvolumen von fast zwei Millionen Euro aus. Die eine Hälfte der Kosten trägt der Eigentümer, die andere teilen sich die Stadt Winsen, das Land Niedersachsen und der Bund.

Ein ehrgeiziges Projekt, das sich Jahre vielleicht sogar Jahrzehnte hinziehen wird. Zu lange, wie nicht nur viele Bewohner des Quartiers, sondern auch Anwohner beklagen. Wie ein Fremdkörper wirken die stark sanierungsbedürftigen Wohnblöcke in dem sonst so mittelständisch geprägten Wohngebiet - mitten im Herzen der Kreisstadt. Hübsche Einfamilienhäuser mit Vorgartenidyll gegen grau-blaue Betonklötze. Ein Spannungsverhältnis, das sozialen Sprengstoff in sich birgt. Von den 461 Einwohnern haben über gut Prozent einen Migrationshintergrund. Die Leerstandsquote lag Ende 2008 bei fast 20 Prozent. Schimmelbefall macht viele Wohnungen in den oberen Etagen unbewohnbar. Die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch, die Miete überweist in der Regel das Sozialamt auf das Konto der Capricornus GmbH - dem Eigentümer der Immobilie. Der habe die maroden und heruntergekommenen wirkenden Bauten vor rund drei Jahren bereits in sehr schlechtem Zustand gekauft. Seit dem hat sich nicht viel geändert.

"Es gab von Anwohnern sogar schon den Vorschlag, eine Schallschutzmauer hochzuziehen", sagt Sven Dunker, schüttelt den Kopf. Kategorisierungen wie "sozialer Brennpunkt" oder "Problemviertel" lehnt der Sozialpädagoge ab. "Sie führen zu nichts, drücken den Bewohnern einen Stempel auf, der es ihnen außerhalb des Viertels schwer macht, Fuß zu fassen." Sven Dunker wurde im Mai 2009 als Quartiermanager im Albert-Schweitzer-Viertel installiert. Er soll zusammen mit den Bewohnern Verbesserungsvorschläge entwickeln.

Eine von ihnen ist Petra Otto. Vor vier Jahren ist die 35-Jährige mit ihren fünf Kindern in die Albert-Schweitzer-Straße gezogen. Die 75 Quadratmeter-Wohnung bot ein erbärmliches Bild: Die Badezimmer-Kacheln waren pech-schwarz, tiefe Löcher klafften in dem Jahrzehnte alten Linoleumboden und die Wände waren über und über mit einem braunen Brei beschmiert. Petra Otto griff selbst zu Pinsel und Farbe. Die Materialkosten sollte sie von dem Besitzer erstattet bekommen. Dabei ist es geblieben, das Geld habe sie nie gesehen. Wer sich beschwert, über die ständig ausfallende Heizung, undichte Fenster, durch die der Wind pfeift oder den Schimmelbefall, wird in der Regel vertröstet. Repariert wird selten etwas.

Die Sanierung der Wohneinheiten ist der eine Schwerpunkt des Programms "Soziale Stadt" - die sozialpädagogische Arbeit der andere. "Es ist wichtig, dass die Vorschläge von den Bewohnern selbst kommen, um ein Bewusstsein für den Wert der Verbesserungen zu schaffen und das sie diese auch selbst vertreten", so Dunker. Es könne nicht sein, dass man heute neue Bänke aufbaut, die morgen schon wieder beschmiert werden. Ob sich dadurch grundlegend etwas ändern wird? Darüber gibt es im Viertel geteilte Meinungen. "Ich glaube nicht", sagt Seval Özer. Während sich ihre Mutter Alev mit anderen Frauen zur Teerunde trifft, besucht die 14-Jährige die Mädchengruppe, die Sven Dunker in diesem Frühling ins Leben gerufen hat, um das soziale Miteinander im Viertel zu stärken. Gemeinsam bepflanzen sie Blumenbeete, räumen in regelmäßigen Abständen den Innenhof auf. Oft würde Seval ihre Adresse am liebsten verschweigen. "Ich habe schon von Freunden gehört, die keine Lehrstelle bekommen haben, weil sie im Albert-Schweitzer-Viertel wohnen", sagt sie. Der Teenager will nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Polizistin machen und raus hier. Das ist ihr Traum. "Hier gibt es doch nichts", sagt sie und schaut aus dem Fenster.

Sven Dunker kann das verstehen. "Aber man muss auch sehen, dass viele Menschen gar keine andere Wahl haben, als hier einen Mietvertrag zu unterschreiben", so der Quartiermanager. Seit Jahren ziehen sich die Städte und Kommunen aus dem sozialen Wohnungsbau zurück. "Es gibt im Landkreis Harburg kaum noch bezahlbaren Wohnraum für sieben- bis achtköpfige Familien. Der Landkreis braucht dieses Viertel. Es muss nur auf einen akzeptablen Stand gebracht werden."

Dieser Verantwortung wolle sich die Stadtverwaltung stellen - tönt es aus dem Rathaus. Erste Sanierungsmaßnahmen sind bereits getroffen worden. Im Innenhof können sich die Kinder über moderne Spielgeräte freuen, seit gestern gibt es dort auch neue Tische und Bänke. Auch im Streit um das anliegende marode Parkhaus wurde mittlerweile entschieden: Es soll noch in diesem Jahr abgerissen werden. Kosten: rund 100 000 Euro, die zu 50 Prozent der Eigentümer übernehmen wird. "Insgesamt werden bis zum Jahresende schätzungsweise 395 000 Euro in die Hand genommen werden", so Alfred Schudy, Leiter der Stadtplanungsabteilung und der Baubehörde der Stadt Winsen, "die Stadt wird davon etwa 132 000 Euro übernehmen."

Der Löwenanteil der Kosten wird in die Sanierung der 190 Wohnungen fließen. Wann damit begonnen werden kann? "Wir peilen 2012 an", so Alfred Schudy. Ein Termin, auf den Alev Öze und ihre Nachbarn hinfiebern. "Unser Viertel soll nicht mehr so einen schlechten Ruf haben", sagt sie, "wir wünschen uns einfach ein menschenwürdiges Leben."

* Namen der Bewohnern geändert