Alltag mit der Trauer. Als das Interview vor zwei Monaten verabredet wurde, ahnte niemand, dass Schmidt jetzt um seine Loki trauern würde.

Hamburg. Ganz genau kann sich Helmut Schmidt an dieses plattdeutsche Lied erinnern, praktisch an jedes Wort. "Ick wull, wi weern noch kleen, Jehann, dor weer de Welt so groot!", rezitiert er. Mit seinem Großvater Gustav hat er es gesungen. Später dann auch bei der Beerdigung des sozialdemokratischen Urgesteins Walter Schmedemann 1976, ebenso zu Heidi Kabels 80. Geburtstag im Jahr 1984: "Ich wollt, wir wär'n noch klein, Johann, da war die Welt so groß!"

"Der Text stammt von Klaus Groth", sagt Helmut Schmidt. Auch an die folgenden Zeilen des melancholischen Stücks erinnert er sich: "Wir saßen auf dem Stein, Johann, weißt' noch, bei Nachbars Brunn'." Er summt ein paar Töne, dann herrscht wieder Schweigen. Es ist eine Stille, die beinahe schmerzt.

Ja, damals, da war die Welt so wunderbar groß. Zum Umfassen lud sie ein, zu Tatendrang und Wagemut. Und heute? "Ich muss mich an die neue Situation gewöhnen", sagt der Witwer, sehr langsam und betont. "Aber es fällt schwer."

Hinter der ihm eigenen Würde und seiner scheinbaren Unverwüstlichkeit sind die Zeichen von Erschöpfung beim Altkanzler unverkennbar. Als sei ihm der Panzer abhanden gekommen. Kein Wunder nach den vergangenen bitteren Wochen, die den Alltag grau umnebeln. Und wenn sich Helmut Schmidt noch so bemüht, sich die Trauer nicht anmerken zu lassen - es glückt ihm nicht.

Die Trauerzeremonie für seine Loki im Michel liegt gerade zwei Wochen zurück, die Verabredung zum heutigen Treffen zwei Monate länger. Eigentlich sollte es um Heidi Kabel gehen und um das Abendblatt-Buch über diese wenige Monate zuvor verstorbene große Hanseatin. Doch das Gespräch wie geplant zu führen, geht nicht. Nicht nach Hannelores Tod, der alles im Leben Schmidts überschattet. Da herrscht unausgesprochene Übereinstimmung zwischen beiden, die sich am schlichten Schreibtisch in Schmidts Büro im Pressehaus am Speersort gegenübersitzen.

Auf der einen Seite der Macher von einst, ein bisschen in sich versunken, vis-à-vis der Fragesteller vom Abendblatt - mit einem flauen Gefühl im Magen. Zu nahe treten darf man diesem Mann auf keinen Fall, mahnt das Gewissen. Und auszunutzen ist die Situation erst recht nicht. Ehrensache. Andererseits kann man das Geschehene nicht übergehen. Das Leiden steht Helmut Schmidt auch so ins Gesicht geschrieben. Das Hinsehen tut weh.

"Geht es Ihnen denn ein bisschen besser, Herr Schmidt?", so die etwas zaghafte Frage, nachdem das Thema Heidi Kabel zumindest schon mal gestreift ist, und auch der Großvater Gustav, ein Stauereiarbeiter im Hamburger Hafen, "der kaum lesen und schreiben, indes gut Platt snacken konnte". Er, Helmut, beherrsche mehr Missingsch. Stille. Einen Moment verharrt Schmidt regungslos, dann greift er nach vorn, nestelt eine der zahlreichen dort gestapelten Zigaretten aus einem Holzkästchen, entzündet diese mit einem hellbraunen Billigfeuerzeug - und schweigt. Hat er die Frage nicht verstanden? Doch, er hat, ganz genau sogar. Denn plötzlich hebt er das Haupt und guckt dem Fragenden über die Brille hinweg in die Augen. Sehr intensiv. Der Blick sagt mehr als viele Worte. "Mutt ja", sagt er schließlich. Muss ja.

Und die Freunde von früher? Helfen sie in der Not? "Die meisten sind ja tot", sagt Schmidt, bläst den Rauch in die Höhe. Und abends mal etwas unternehmen mit den verbliebenen Weggefährten, damit einem daheim in Langenhorn nicht die Decke auf den Kopf fällt? Der 91-Jährige schüttelt den Kopf. "Ich muss mich daran gewöhnen", meint er. Und wie geht das mit dem Essen? Kann er kochen? Erstmals ist die Spur eines Lächelns zu erkennen: "Besser nicht." Die Haushälterin bereite etwas vor, und er hole dies abends aus dem Kühlschrank. Auch das Frühstück wird von ihr bereitet. Muss ja. Erneut Stille.

Zurück zum Thema Heidi Kabel. Ein Foto aus alten Zeiten, wie der jüngere Schmidt der Volksschauspielerin formvollendet einen Handkuss gibt, weckt Erinnerungen. Wenn es darum geht, ist der Kanzler im Ruhestand topfit. Er hat Jahreszahlen parat, ganz konkrete Erlebnisse ebenso. Zum Beispiel von 1949, dem Gründungsjahr der Bundesrepublik. "An den Großen Bleichen hatte ich mein erstes Büro", sagt er, "bei Karlchen Schiller war das." Beim späteren Wirtschafts- und Finanzminister also.

Im fünften Stock hatte der aufstrebende Politiker seinen Arbeitsplatz. Einen Fahrstuhl gab es nicht, dafür aber einen Paternoster. "Ich hatte immer Angst davor", fährt Schmidt fort, "weil ich fürchtete, irgendwann kopfüber und mit den Beinen in der Luft zu sein." Diese Vorstellung macht ihm auch heute noch Freude. Helmut Schmidt lacht, greift nach einer weiteren Zigarette. Der Besucher atmet durch, das Eis ist gebrochen, der dunkle Nebel durchstoßen. Fürs Erste zumindest.

Ganz unten im Bürohaus, erzählt er gut gelaunt weiter, sei damals die Niederdeutsche Bühne untergebracht gewesen, das spätere Ohnsorg-Theater. Dort habe er Heidi Kabel gelegentlich getroffen. Wie gesagt, bei deren 80. Geburtstag gesungen und beim 70. einen "Sack voll Rosen" präsentiert. Seite an Seite mit Loki. Mit ihr sei er früher oft ins Winterhuder Fährhaus gegangen. Lag näher.

Auch Inge Meysel habe er gut gekannt. Deren Ehemann ebenso. Helmut Schmidt grübelt einen Augenblick lang, dann hat er den Namen parat: Sir John Olden, ein britischer Offizier, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg zu Heidi Kabels weiterer, beispielloser Karriere ebnete, indem er eine Art Berufsverbot aufhob.

Das Gespräch kommt auf Ida Ehre, der unvergessenen Gründerin und Prinzipalin der Kammerspiele in der Hartungstraße. Ihren Mann, Dr. Bernhard Heyde, habe er enorm geschätzt. Bedächtig buchstabiert Schmidt den Namen. Von Heyde hängt auch ein Bild daheim im Neubergerweg 80-82 in Langenhorn. Ohnehin habe er das anspruchsvolle Theaterspiel besonders verehrt. Was Sympathien für das burleske Genre keineswegs ausschloss. So wie zu Freddy Quinn, der in den 70er-Jahren im St. Pauli-Theater enorm in Form war. "Ich hatte ihn während einer Dienstreise in Australien kennengelernt", sagt Helmut Schmidt. Später am Spielbudenplatz habe er Freddy dann zum Klönschnack in dessen Garderobe besucht. War lustig.

Erneut greift er zu einer Reyno menthol. Die Erinnerungen heitern ihn auf. Er weist auf eine Schale in einem Regal hinten im kleinen, stilvoll eingerichteten Raum. Dort liegen ein paar Zigarettenpäckchen seiner Lieblingsmarke sowie eine Holzschachtel Zigarillos edler Provenience. Da sagt man nicht Nein. Schmidt reicht das Plastikfeuerzeug. Jetzt lacht er so richtig herzhaft. Ein Segen. Merkwürdig, aber irgendwie schafft das entzündete Feuer ein bisschen Vertrautheit, fast Wärme.

Die kurze Pause gibt Gelegenheit zu einem Rundblick. Der schlichte Schreibtisch könnte so auch in irgendeiner Amtsstube stehen: Von Prunk oder pompösem Gehabe keinerlei Spur. In einem Schälchen liegen Büroklammern, daneben drei Schnellhefter mit Briefen, weiter rechts das Heidi-Kabel-Buch vom Hamburger Abendblatt. Fotos und Bilderrahmen - Fehlanzeige. Das einzig Schmuckvolle ist eine betagte Schnupftabakdose aus Silber. In dem Bücherschrank in seinem Rücken sind Biografien und Geschichtsbücher zu sehen. Und zig Bände der englischsprachigen Encyclopaedia Britannica. Wuchtige Werke mit goldfarbener Schrift auf dem Rücken.

Apropos Lesen. Bücher und Zeitungen sind sein Lebenselixier, in diesen schweren Tagen noch mehr als sonst. Die "Financial Times" und die "International Herald Tribune" liegen vor ihm auf dem Schreibtisch. Hinzu kommen fünf weitere Tageszeitungen zu Hause, darunter mit Vorliebe auch die "Süddeutsche" und das Abendblatt. "Lese ich alle täglich", betont er. Und die Pressedokumentationen aus den deutschen Botschaften in aller Welt ebenso. "Jede etwa zweieinhalb Schreibmaschinenseiten lang", sagt er und zieht an seiner Filterzigarette. "Man muss ja wissen, was auf der Erde los ist." Daran hat sich also nichts geändert.

Und all die Nachrufe und Serien anlässlich des Todes seiner Frau? Hat er sie auch gelesen? Ja. Seien durch die Bank persönlich, gut und treffend gewesen. Und die vielen Bücher über ihn? "Die Publizität wird mir zu groß", murmelt er. Eine Tabakwolke, stärker als sonst, schwebt nach oben. "Da schreibt einer Schmidt auf den Titel", fährt er fort, "und schon wird's verkauft." Unwilliges Kopfschütteln. Nur in Sachen seiner Ehefrau Loki sei das anders, da genieße er jede Seite. Mitte Oktober sei das erste Belegexemplar ihres letzten Buches daheim in Langenhorn eingetroffen. "Da war meine Frau schon zu schwer krank, um hineinzublicken", sagt er leise. Er jedoch habe es gelesen, von vorne bis hinten. Gut gelungen. Aber der Wirbel um seine Person, nein, das reiche nun.

Deswegen trete er jetzt kürzer und gebe keine Interviews mehr. "Warum haben Sie den Termin heute denn nicht abgesagt, Herr Schmidt?" Dafür hätte in Anbetracht der Trauer doch jeder Verständnis. "Warum sollte ich?", entgegnet er. Das sei nicht preußisch, das sei hanseatisch. Ganz normal eben.

Er arbeite unverändert weiter: Bereits zwei Tage nach der Beerdigung saß Helmut Schmidt wieder am Schreibtisch bei der "Zeit". 40 Wochenstunden sind's nach wie vor, sagt er. Davon drei bis vier Tage im Büro. "Der liebe Gott hat mich als Arbeitstier geboren", ergänzt Schmidt. Das helfe in diesen Tagen. Gilt das für die Beileidsbekundungen ebenso? Ein langer Moment Schweigen. Tausende seien eingetroffen seit Lokis Tod. Briefe, E-Mails, Blogs. Früher sei es sein Prinzip gewesen, jedes Schreiben zu beantworten, dies jedoch gehe nun nicht mehr. "Alles lieb gemeint", murmelt er, "aber ..."

Stille auf beiden Seiten. Schmidt kramt eine hellblaue Plastikdose hervor. "Gletscherprise", ein Schnupftabak aus Bayern. Er nimmt eine kräftige Prise, blickt dann noch mal auf das Buch über Heidi Kabel.

"Im Theater war ich seit 15 Jahren nicht mehr", sagt Helmut Schmidt unvermittelt. "Bin ja fast taub." Auch Fernsehen gehe nicht. Videokassetten oder DVD? "Zu viel Tüdelkram", grummelt er und winkt ab. Auch die Mußestunden mit Loki daheim bei Bach oder Händel - alles Vergangenheit. Atemholen. Weiter paffen.

Helmut Schmidt blickt auf die Uhr. Er drückt eine weitere Zigarette aus. Die vereinbarte Stunde ist weit überschritten. "Einen Moment noch, junger Mann", sagt er unvermittelt nach dem Händedruck. Zu Walter Schmedemann sei ihm noch etwas eingefallen. Krankenträger sei dieser gewesen, später Staatsmann. Ein richtiger Staatsmann. Höchst beeindruckend war es, als bei dessen Beerdigung das plattdeutsche Lied vom "Mien Jehann" gesungen wurde. Klaus Groth dichtete es nach dem Kriegstod seines Bruders.

Einen sehr traurigen Ausklang hat es: "Doch allens, wat ick finn, Jehann, dat is - ick stah un ween." Doch alles, was ich finde, Johann, das ist - ich steh und wein."