2000 Gäste im Michel. Merkel, Schröder, Köhler und Weizsäcker bei Trauerfeier

Hamburg. Dies war der Moment, der besonders zu Herzen ging. "Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten", sprach Henning Voscherau mit gebrochener Stimme in das Mikrofon. "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält." Ein tiefer Atemzug, dann ergänzte Hamburgs früherer Bürgermeister das Rilke-Gedicht mit seinem ganz persönlichen Wunsch für seine verstorbene Freundin Hannelore Schmidt: "Falle sanft, Loki. Ruhe sanft. Wir werden dich nicht vergessen."

Dies war auch der Moment, in dem Gefühle die Hoheit gewannen über die preußische Selbstbeherrschung des Witwers ganz links in der ersten Reihe. Helmut Schmidts Kopf sackte nach vorne, sein Körper bebte, Tränen flossen. Sanft streichelte Tochter Susanne den weißen Hinterkopf ihres Vaters. Orgelklänge lösten das bedrückende, fast schmerzende Schweigen in St. Michaelis ab.

Bis dass der Tod euch scheide.

Acht Träger hievten den Eichenholzsarg in die Höhe. Langsam schritten sie dem Ausgang entgegen. Gefolgt von Helmut Schmidt im Rollstuhl, das Haupt auf die rechte Hand gestützt. Einsam wirkte der einst starke Kanzler, zerbrechlich fast. Hinter ihm ging Tochter Susanne. Aufrecht. Äußerlich aufrecht. Dieser vorletzte, bittere Gang führte vorbei an der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel, deren Vorgänger Gerhard Schröder, an früheren Bundespräsidenten, Ministern, Bürgermeistern, Senatoren und anderen Würdenträgern. Selten, vielleicht noch nie, waren in Hamburgs Hauptkirche derart viele hochkarätige Ehrengäste zusammengekommen.

Sie alle erhoben sich, um einer Persönlichkeit Ehre, Respekt und Dankbarkeit zu erweisen, die viel mehr darstellte, als nur Kanzlergattin oder Ehrenbürgerin zu sein.

Bereits zwei Stunden vor der für 12 Uhr angesetzten Zeremonie stand eine Menschenschlange vor der Sicherheitsabsperrung rund um den Michel. Während die gut 700 Ehrengäste unangetastet blieben und durch streng abgeschirmte Tore kamen, musste sich jeder Besucher ohne schriftliche Einladung penibel kontrollieren und mit Metalldetektoren absuchen lassen. Das sah jeder ein. "Ich habe Loki als Frau bewundert", sagte Frauke Lysanne aus Groß Borstel. "Sie war eine von uns." Andere Wartende nickten. Bei allem Ernst war die Stimmung freundlich. "91 ist ein gesegnetes Alter", so der Tenor. Sorgen mache man sich am meisten um Helmut Schmidt.

Letztlich mussten nur wenige draußen vor der Tür bleiben. Sie konnten sich die fast zweieinhalbstündige ARD-Originalübertragung in einem der umliegenden Lokale angucken oder sich zu den drei Hundertschaften Wissbegieriger gesellen, die an der Englischen Planke gegenüber dem Hauptportal Position bezogen hatten.

Die beste Sicht hatte Reinhard "Buttje" Rauch, Chef des Old Commercial Rooms vis-à-vis dem Michel. "Da saß sie immer mit Helmut", sagte Rauch und deutete auf einen Ecktisch vorne rechts in seinem Lokal. Darüber hängt ein Schwarz-Weiß-Foto des Kanzlers. Sie habe Labskaus gemocht - und vorweg gerne einen Piccolo Fürst Metternich. Oder eine Bloody Mary.

Derweil nicht nur der Wirt in Erinnerungen schwelgte, wurde im Gotteshaus gegenüber Johann Sebastian Bachs Ouvertüre in h-Moll intoniert. Ebenfalls ein Wunsch der Verstorbenen. Als Erster hatten Bundespräsident Richard von Weizsäcker, sein früherer Kollege Horst Köhler sowie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen in der ersten Reihe des "Senatsgestühls" Platz genommen. Es folgten Gerhard Schröder und Angela Merkel, die sich zwischen Simone Ahlhaus und Henning Voscherau setzte. In Reihe zwei erwiesen Hamburgs Senatoren Loki Schmidt die letzte Ehre, dahinter ehemalige Bundesminister wie Hans Apel oder Hans-Dietrich Genscher. Ole von Beust saß neben Hans-Ulrich Klose und Kurt Biedenkopf.

Nach der liturgischen Begrüßung durch Hauptpastor Alexander Röder hielt der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, der gebürtige Hamburger Eduard Lohse, die Predigt. Im Anschluss an den religiösen Teil der Trauerfeier trat Bürgermeister Christoph Ahlhaus an das Rednerpult im Altarraum. "Loki Schmidt hinterlässt das Schönste, was ein Mensch hinterlassen kann", sagte er mit Blick auf den Sarg neben ihm. "Inspiration, aufrecht und frei durchs Leben zu gehen."

Stille. Dann Orgelimprovisationen. Schleifen an vielen Kränzen zollten Respekt wie Dank. Einige waren in den Deutschlandfarben, andere in den Hamburger Farben gehalten. Hinter dem Sarg erinnerte ein großes Foto an Loki Schmidt, wie sie nicht nur die Hamburger mochten: selbstbewusst, kraftvoll, stolz, mit einem natürlichen Lächeln gesegnet. Hanseatisch eben.

Ebenso wie Henning Voscherau, der zum Abschluss einer überhaupt nicht prunkvollen, eher schlichten, aber genau deswegen stilvollen und würdigen Zeremonie nach vorne schritt. Am Sarg hielt er inne, verneigte sich. Der Bürgermeister a. D., mehr Freund als Weggefährte der Schmidts, hatte hörbar einen Kloß im Hals. Er war nicht der Einzige. Mehrfach brach dem sonst stets beherrschten Voscherau die Stimme, als er an Loki Schmidt erinnerte.

Irgendwie war in St. Michaelis dabei ein übergeordnetes Gefühl zu spüren, dass es genau so richtig war, wie es geschah. An einem Novembertag, an dem sich der Himmel grau verschloss und die Blätter wie von weit fielen. Und doch ist Einer, so die Hoffnung, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.