Esteban, Mario und die anderen erblicken das Tageslicht, Millionen jubeln weltweit mit. Doch Chiles Kumpel sind noch längst nicht übern Berg

Mehr Gefühl geht einfach nicht, als sich um 5.10 Uhr am Mittwoch unserer Zeit die Klappe der Rettungskapsel zum ersten Mal öffnet und Florencio Àvalos freigibt, den Ersten der 33 chilenischen Mineros. Überall auf der Welt jubeln die Menschen, es wird öffentlich geweint oder nur verschämt die eine oder andere Träne des Glücks aus dem Augenwinkel gewischt. Noch nie waren Kumpel so lange und so tief unter Tage eingeschlossen gewesen. Die einen 69, die anderen 70 Tage lang, 625 Meter unter dem kargen Boden der Atacama-Wüste.

Die Augen der ganzen Welt haben die bizarrste und wahrscheinlich auch am besten organisierte Rettungsaktion der Bergbau-Geschichte verfolgt. Niemanden, von Manila bis München, von Washington bis Wladiwostok, der die Livebilder gesehen hat, dürften die ersten Reaktionen der Rückkehrer kaltgelassen haben. Sie haben sich selbst gefeiert, ihre Retter, den Präsidenten, den Bergbauminister und nicht zuletzt ihre ganze Nation. Und auch wenn die Männer häufig benommen schienen: Sie haben sich zusammengerissen und sich fast alle mit dem Victory-Zeichen auf die Trage gelegt, mit der sie zum medizinischen Schnell-Check ins provisorische Lazarett neben dem Rettungsschacht gerollt wurden: Wenn die Welt, vertreten durch etwa 1600 Journalisten, auf ein gottverlassenes Kaff in einer chilenischen Wüste blickt, zeigt man keine Schwäche. Ein Mann sowieso nicht - und ein Bergmann schon gar nicht. Doch die Sanitäterin Marcela Zuniga, die häufig mit den Eingeschlossenen gesprochen hat, erzählte, die Nervosität sei kurz vor dem letzten Teil der Rettungsaktion angestiegen. "Sie sagten mir zwar, sie seien ganz ruhig, aber man spürt in den Gesprächen die Unruhe in der Gruppe."

Auch die eigentliche Rettung könnte die klassischen Symptome des posttraumatischen Stress-Syndroms verstärken: Albträume, wiederkehrende plötzliche Erinnerungen, Schweißausbrüche und Nervosität. "Das große Trauma ist der Kontrollverlust - keine Kontrolle und Unberechenbarkeit macht die Menschen verrückt", sagt Enrique Chía, Psychologe an der Katholischen Universität von Chile.

Doch vor allem der zweite Minero, Mario Sepúlveda, längst eine internationale Berühmtheit, da er unter Tage "der Außenminister" gewesen ist, strotzt nur so vor Freude und Kraft. Er fängt bereits an zu lachen, als die Kapsel noch gar nicht geöffnet ist. Anschließend springt er wie ein Rockstar umher und umarmt den chilenischen Präsidenten zweimal öfter als seine Frau. Angeblich liegen Sepúlveda bereits mehrere Angebote von Fernsehsendern vor, eine Talkshow zu übernehmen.

Dennoch hat der gigantische Medienrummel rund um den Rettungsschacht etwas Gutes, verleiht er dem Tag doch zusätzliche Bedeutsamkeit. Danach sollte man den Bergleuten Ruhe gönnen. Sie sollen in ihr altes Leben zurückfinden. Einige haben sogar empfohlen, den Geretteten kein Geld für Interviews anzubieten, da man sie wegen ihrer geringen Löhne (700 Euro im Monat) leicht dazu verführen könne, sich zu öffnen. Eine deutsche TV-Talkshow habe laut einem chilenischen Zeitungsbericht jedoch schon eine hohe Summe offeriert, um die Männer so rasch wie möglich in ein Flugzeug zu setzen, das sie in die Heimat der "Dahlbusch"-Bombe fliegen soll, die 1955 in Gelsenkirchen zur Rettung Verschütteter erfunden wurde - die "Fénix"-Rettungskapsel hat deutsche Wurzeln, sodass wir wohl auch ein bisschen mitgerettet haben.

Sepúlveda und die anderen 32 Mineros, die unter Tage alle Nachrichten verfolgen konnten, wissen natürlich, dass sie jetzt diesen Moment der unbändigen Freude und Erleichterung nutzen müssen. Denn mit dem letzten Kumpel, der aus der Rettungskapsel steigen wird, endet auch ein beinahe zweitägiges Doku-Drama, das den Zuschauern in aller Welt etwa alle 50 Minuten ein gutes Gefühl, einen emotionalen Höhepunkt beschert hat. Doch auch Berühmtheit besitzt nur ein Mindesthaltbarkeitsdatum.

Der ungeheure, berechtigte Jubel über die Rettung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigentliche psychologische Aufarbeitung für die Bergleute erst noch beginnt. Wenn sich derart starke Empfindungen im Augenblick des Wiedersehens schlagartig entladen, könnte es für einige der Bergleute und ihre Angehörigen zum emotionalen Kurzschluss kommen, früher oder später, wenn die Erinnerungen an die ersten 17 Tage der völligen Isolation zurückkehren, in denen sie nur eins kannten: Todesangst.

Nicht einmal den Kameras ist es - auch im extremen Close-up - möglich, die emotionale Wucht solcher Gefühle zu zeigen, die zurzeit in den Herzen und Köpfen der Geretteten von San José tobt. Enrique Chía sagt den Bergleuten "gravierende Veränderungen" voraus: "Ihr Leben von früher ist bereits vorbei." Die meisten würden zu diesem frühen Zeitpunkt zwar noch nicht damit rechnen, doch für einige könnten schon bald "Phasen der Traurigkeit und der Depression" beginnen. "Eingeschlossen im Bergwerk, lässt man die Ängste gar nicht zu."

Wie gut die Kumpel die Ereignisse verarbeiten, hängt nun vor allem von ihren individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, ihrer Lebensreife und dem sozialen Umfeld ab. Für Partner, Freunde und Angehörige sei es nun wichtig, Sensibilität zu zeigen. Schwierig werde es vor allem für diejenigen, die nach ihrer Rettung nicht in ein intaktes Umfeld kommen Und einige der Mineros haben ja auch vielleicht gar keinen Partner. Doch alle Psychologen und Trauma-Experten, die in diesen Tagen zu dieser Problematik befragt wurden, sind sicher: Die Mineros von San José werden von nun an jedes Jahr am 13. Oktober feiern. Den Tag ihrer zweiten Geburt.