Geringer Selbstwert, Probleme mit Kollegen. Warum auffällige Mitarbeiter besonders intelligent sein könnten, erklärt Coach Corinna Kegel.

Corinna Kegel coacht Berufstätige mit einem IQ über 130. Unternehmen wüssten oft nicht, welche unentdeckten Schätze sie damit im Team haben.

Hamburger Abendblatt:

Hochbegabte haben nach der Definition einen Intelligenzquotienten von mindestens 130. Doch die wenigsten werden ihren IQ schon einmal gemessen haben. Kann man merken, dass man hochbegabt ist?

Corinna Kegel:

Hochbegabte fühlen sich oft eigenartig, ecken an, ohne das zu beabsichtigen, erleben sich fremd und unverstanden im Kontakt mit anderen, meist seit früher Kindheit in vielerlei Hinsicht einfach anders als andere. Ein typisches Symptom ist zum Beispiel ein übersteigerter Anspruch an sich selbst, ein unglaublicher Perfektionismus. Häufig geht damit ein geringes Selbstwertgefühl einher, weil ich die Messlatte so hoch lege, dass ich sie nie erreichen kann. Denn würde ich sie erreichen, hätte ich die Latte ja nicht hoch genug gelegt. Hochbegabte haben Schwierigkeiten, sich über ein gutes Arbeitsergebnis zu freuen. Sie sind selten mit sich zufrieden und halten ihre überdurchschnittliche Leistung für selbstverständlich, da sie ihnen ja relativ leicht gelungen ist.

Wie fallen Hochbegabte im Job auf?

Kegel:

Der geringe Selbstwert, der aus diesem hohen Anspruch entsteht, führt zum Beispiel dazu, dass ich mich in Unterhaltungen und Diskussionen im Arbeitsleben stark zurücknehme. Denn ich gehe immer davon aus, dass andere Menschen eine genauso fundierte Meinung haben und wahrscheinlich besser über das Thema Bescheid wissen als ich selber. Das heißt also, viele von diesen Menschen sind sehr zurückhaltend oder scheu, haben oft Kommunikationsschwierigkeiten und stellen ihr Licht unter den Scheffel. Wenn sie sich äußern, werden sie manchmal angegriffen. Ein Beispiel: Der Hochbegabte kommt in ein Meeting und bringt gleich zu Beginn sein nach reiflicher Überlegung entstandenes Ergebnis ein. Unverständnis bei der übrigen Crew. Zwei Stunden Diskussion erzielen dann genau das Ergebnis, das der Hochbegabte schon zu Anfang präsentiert hatte. Die Schnelligkeit und Komplexität des Denkens Hochbegabter führen dazu, dass diese oft nicht verstanden werden. Das macht häufig unbeliebt, irritiert andere. Wer diese Erfahrung zu häufig macht, bringt sich nicht mehr ein.

Sind Arbeitgeber schon darauf aufmerksam geworden, dass Mitarbeiter, die in ihrer Leistung oder im Verhalten auffallen, auch hochbegabt sein könnten?

Kegel:

Meine Erfahrung mit Unternehmen ist, dass sie sehr wenig von dem Phänomen wissen. Vor allem nicht an den entscheidenden Stellen. Dabei ist das Thema Hochbegabung/Hochsensibilität bzw. überdurchschnittliche intellektuelle Begabung auch für Personalleiter und Führungskräfte ein auf ungeahnte Weise lohnendes Thema. Ich kenne ein großes Unternehmen, in dem eine hochbegabte Führungskraft jetzt einen speziellen Förderkreis initiieren möchte. Aber das ist eine echte Seltenheit und liegt daran, dass sie durch die eigene ihr schon lang bekannte Hochbegabung und deren intensive Förderung eine Affinität zu dem Thema hat.

Wie wird das funktionieren?

Kegel:

In den meisten Fällen stößt das Thema Förderung von Hochbegabten eher auf Befremden, auf Ablehnung. Wir sind gewohnt, in unserem Bildungssystem Menschen zu fördern, die eher schwächer sind. Häufig kommt die Frage auf: Wieso sollten wir Leute, die sowieso schon enorm intelligent sind, noch weiter fördern? Es braucht wirklich große Offenheit als Führungskraft oder Personaler, um sich überhaupt dem Gedanken öffnen zu können, dass da Menschen sind, die klüger sind als sie selber. Das macht erst einmal Angst, denn die könnten sie ja überholen oder austricksen. Wenn ich in Unternehmen das Thema Coaching und Training als Personalentwicklungsmaßnahme anspreche, vermeide ich den Vorgesetzten gegenüber den Ausdruck "Hochbegabung". Ich nenne lieber Begriffe wie Stärkenmanagement, Talentförderung, High Potentials. Das ist zwar nicht dasselbe, aber "sozial verträglicher".

Es könnte ja auch sein, dass der Hochbegabte gerade der "kleine Sachbearbeiter" ist. Wie identifiziert ein Personaler denn dessen Hochbegabung?

Kegel:

Darin liegt die Herausforderung. Solange die Führungskraft die Symptome von Hochbegabung nicht erkennt, weiß sie nicht, warum dieser Sachbearbeiter einen unzufriedenen Eindruck macht, warum seine Leistung oder sein Engagement nachlassen oder warum sie sein Verhalten als eigenartig interpretiert. Da braucht es Fingerspitzengefühl und Beobachtungsgabe, um ein spezielles Talent zu identifizieren. Umso wichtiger finde ich es, dass Menschen in Schlüsselpositionen geschult werden für die Symptomatik und die darin liegenden Chancen für beide Seiten, damit sie die Leute erkennen und gezielt ansprechen können. Idealerweise geht die Aktivität vom Vorgesetzten oder Personaler aus. Ergreift der Hochbegabte die Initiative, stößt das, wie schon gesagt, nicht immer auf Entgegenkommen.

Bleiben Hochbegabte im Job hinter ihren Möglichkeiten zurück?

Kegel:

Ja, häufig. Hochbegabte sind nur selten die Überflieger - eben weil sie mit ihrem Perfektionismus und ihrer Wirkung auf andere zu kämpfen haben. Auffällig ist, dass viele Hochbegabte sich irgendwann selbstständig machen. Denn sie haben oftmals Schwierigkeiten mit Autoritäten - was die Situation als Angestellte noch erschwert. Doch das ergibt sich aus der Natur der Sache: Wenn ich den Eindruck habe, ich sei besser oder schneller als mein Vorgesetzter, dann schwindet manchmal der Respekt. Und wenn ich Weisungen als unsinnig empfinde, kann ich mich ihnen nur schwer fügen.

Was raten Sie einem Personaler, der glaubt, einen Hochbegabten im Team entdeckt zu haben?

Kegel:

Zunächst gilt es, in einen Dialog zu treten über die Wünsche und Entwicklungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, dass die Karten nun offen sind. Gezielte Förderung, aber auch Maßnahmen wie Vertrauensarbeitszeit oder Bezahlung nach Leistungserreichung bieten sich an - Hochbegabte schaffen das gleiche Pensum in deutlich kürzerer Zeit und langweilen sich im entstehenden Leerraum. Ebenso ein Angebot komplexerer, verantwortungsvollerer Aufgaben und vieles mehr. Fragen Sie Ihre Mitarbeitenden, was sie sich vorstellen können. Sie werden belohnt mit motivierten, engagierten, zufriedenen Talenten. Unternehmen verfügen über einen enormen Schatz unter ihren Mitarbeitern, der entdeckt, gehoben und ausgebaut werden will. Wird in eine spezielle Förderung besonders begabter Mitarbeiter investiert, kann das Unternehmen nur profitieren - ebenso wie der Hochbegabte selbst.