Gewerkschaft sieht Verstöße auch bei einigen selbstständigen Einzelhändlern in Hamburg. Konzern weist Vorwürfe zurück.

Hamburg/Berlin. Nach den Discountern Lidl und Schlecker nimmt die Gewerkschaft Ver.di nun den Einzelhändler Edeka ins Visier: Mit einer Öffentlichkeitskampagne will Ver.di darauf aufmerksam machen, dass die Beschäftigungsbedingungen bei den Supermärkten des Handelskonzerns zweigeteilt sind. Auf der einen Seite gebe es die von den Regionalgesellschaften geführten Regiebetriebe, die Tariflohn bezahlen. Auf der anderen Seite stünden die Märkte, die von selbstständigen Einzelhändlern geführt werden: Sie beschäftigen 140.000 der insgesamt 306.000 Edeka-Mitarbeiter. Diese seien "ohne tariflichen Schutz und ohne den Schutz von Betriebsräten direkt oder indirekt von Dumpinglöhnen betroffen". Das geht aus der Studie "Schöne neue Handelswelt!? " hervor, die Ver.di übermorgen veröffentlicht.

"Es steht überall Edeka drauf, aber die Arbeitsbedingungen sind nicht gleich", sagt Hubert Thiermeyer, Fachbereichsleiter Handel bei Ver.di in Bayern und Herausgeber der Studie. "Auch in Hamburg gibt es privatisierte Edeka-Betriebe, die sich nicht an die Tarifbindung halten und keine Betriebsräte haben", sagt Arno Peukes, Handelsexperte bei Ver.di in Hamburg. Allerdings gebe es unter anderem mit dem Unternehmen Niemerszein auch durchaus positive Beispiele für Einzelhändler.

Im Zentrum der Vorwürfe steht die Privatisierungsstrategie des Konzerns. Seit 2003 würden immer mehr Regiebetriebe an selbstständige Einzelhändler verkauft, so Ver.di. Spätestens nach der gesetzlichen Übergangszeit von einem Jahr, in der Bestandsschutz gilt, kann der Einzelhändler von den bislang gültigen Tarifverträgen abweichen, bemängelt die Gewerkschaft. In der Übergangsphase sei es meist unmöglich, eigenständige Betriebsratsgremien zu etablieren. Durch die Entstehung von "quasi rechtsfreien Räumen" sei der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen dann "Tür und Tor geöffnet".

Die von der Gewerkschaft gemachten Erfahrungen mit der Privatisierung von Filialen zeigten immer häufiger auf, "dass vorhandene demokratische Strukturen und Mitbestimmungsmöglichkeiten über Nacht verschwinden und dass die Arbeitsbedingungen von vielen Beschäftigten nach der Übernahme nicht selten verschlechtert werden", heißt es in der Studie. Deshalb müsse die weitere Expansion der Privatisierung gestoppt werden.

Mit der Information der Öffentlichkeit über die Beschäftigungsbedingungen bei bekannten Edeka-Einzelhändlern will Ver.di Druck auf die Geschäftsleitungen aufbauen: Wenn immer mehr Kunden nachfragen oder sogar ausbleiben, könne das durchaus Wirkung haben. Ver.di will die Veröffentlichung der Studie über Edeka aber nicht so hochhängen wie die Kampagnen gegen Lidl ("Schwarzbuch Lidl") oder Schlecker, die dort sogar zu einem Boykott der Läden bei vielen Käufern geführt haben. Denn solche Kampagnen sind auch immer eine schwierige Gratwanderung für die Gewerkschaft: Wenn zu viele Kunden ausbleiben, könnten die Beschäftigten möglicherweise ihren Arbeitsplatz verlieren. Bei Lidl ging das Rezept auf, die Löhne wurden erhöht. Bei der inzwischen pleitegegangenen Drogeriekette Schlecker aber bleibt die Frage, wie sehr auch das über die Jahre von Ver.di geschürte schlechte Image dazu beigetragen hat, dass die Kunden dauerhaft zur Konkurrenz wechselten.

Auch Gewerkschafter Peukes arbeitet an einer Kampagne für den Hamburger Markt. "Viele denken, Edeka sei ein korrekter Mittelständler, der die Beschäftigten gut behandelt", so Thiermeyer. Edeka solle seine moralische Verantwortung wahrnehmen. "Wir haben auf betrieblicher Ebene fast alles versucht. Jetzt kommt eine neue Qualität der Auseinandersetzung, indem wir die Kunden verstärkt informieren."

Was Ver.di als Strategie eines großen Konzerns sieht, der die Kosten senken will, ist für das Unternehmen seit Jahrzehnten das Geschäftsmodell. In einer Mitteilung weist Edeka die Vorwürfe des gezielten Tarifdumpings und Abbaus von Mitbestimmungsrechten als falsch zurück. Der Edeka-Verbund sei seit seiner Gründung im Jahr 1907 genossenschaftlich organisiert und kein Konzern, heißt es darin. "Wir sind ein Unternehmerunternehmen mit selbstständigen Unternehmern, was uns deutlich von einem zentral geführten Konzern abgrenzt." Der Edeka-Verbund habe insgesamt die Erfahrung gemacht, dass Lebensmittelmärkte in der Hand von selbstständigen Kaufleuten sich "wirtschaftlich langfristig deutlich besser entwickeln als von Filialleitern geführte Regiemärkte". Edeka-Einzelhändler beschäftigten qualifizierte und motivierte Mitarbeiter, die sie leistungsgerecht entlohnten.

Ver.di sieht das anders: Thiermeyer zufolge hat sich der Edeka-Verbund längst zum Konzern entwickelt, der mit zentralisiertem Management in den Regionalgesellschaften sowie in der Zentrale in Hamburg auch entsprechende Strukturen aufweist. Noch in den 90er-Jahren habe Edeka den Ausbau der regiegeführten Filialen vorangetrieben, um so großflächig expandieren zu können. Seit 2003, als der Edeka-Vorstand sich zu der Privatisierungsstrategie bekannt habe, seien bis 2011 insgesamt 1096 Regiemärkte an selbstständige Kaufleute übergeben worden. Seit 2005 sei der Umsatz dieser Sparte um 48,2 Prozent gestiegen. Im Regieeinzelhandel seien im dem Zeitraum die Umsätze um 27,7 Prozent gesunken.

"Unsere regional geführten Regiemärkte wurden von Beginn an mit dem Ziel aufgebaut, diese an unsere genossenschaftlichen Mitglieder, also unsere selbstständigen Kaufleute zu übergeben. Nur so wird der in unseren Satzungen verbindlich vorgegebene Förderzweck erfüllt", teilte Edeka in einer Stellungnahme mit. "Die Überführung von Regiemärkten in die Hände selbstständiger Kaufleute, also die Privatisierung, entspricht unserem genossenschaftlichen Auftrag." Mit den Regiemärkten liefere der Edeka-Verbund als Dienstleister die Starthilfe für Existenzgründungen.

Das Unternehmen stellt aber auch klar: "Im selbstständigen Edeka-Einzelhandel liegt die Entlohnung in der Verantwortung der Kaufleute, die als selbstständige Unternehmer agieren."

Hier setzt Ver.di an: Oft setzten die neuen Eigentümer laut der Gewerkschaftsstudie die Beschäftigten bereits in den ersten Wochen nach der Übernahme in Vieraugengesprächen unter Druck, einen neuen Arbeitsvertrag mit schlechteren Bedingungen zu unterschreiben. Dazu gehöre die größere Flexibilisierung der Arbeitszeit, aber auch ihre Verkürzung. Geleistete Mehrarbeit werde oft nicht vergütet, und durch die fehlende Tarifbindung werde der Lohn oft nach unten verändert. "Oft liegen die Stundenlöhne dann nur noch bei 6,50 Euro", bemängelt Thiermeyer. Auch tarifliche Leistungen wie betriebliche Altersvorsorge oder vermögenswirksame Leistungen fielen dann weg, heißt es. Die Möglichkeit, nach der Privatisierung deutlich unter Tariflohn zahlen zu können, werde von den selbstständigen Einzelhändlern als "wesentlicher Faktor angesehen, um im anhaltenden Verdrängungswettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel mithalten zu können", schreibt Ver.di. In den von Unternehmern geführten Filialen gebe es nur in ein bis zwei Prozent der Filialen Betriebsräte. Im Handel insgesamt beträgt die Anzahl der mitbestimmten Unternehmen Studien zufolge acht Prozent. Es gebe in den selbstständig geführten Märkten zudem eine bewusste Abwehrhaltung gegen die Betriebsverfassung und die Einrichtung von Betriebsräten", moniert Ver.di.

Die Gewerkschaft will dennoch alles versuchen, um bei den selbstständigen Einzelhändlern Mitglieder zu gewinnen - die Veröffentlichung der Studie ist Teil dieser Strategie. Bei aller Zuspitzung gibt es aber auch Kooperation zwischen Edeka und Ver.di: In der Regionalgruppe Hannover Minden wurde im März ein Kodex beschlossen, der regelt, dass der Bestandsschutz beim Betriebsübergang statt für ein Jahr für mindestens drei Jahre gilt und die Tarifgehälter in der Zeit weitergezahlt werden. Ob das ein Modell für die ganze Gruppe sei, wollte Edeka allerdings nicht kommentieren.