Ein Rollstuhl fährt wie von Geisterhand, der Arztbesuch wird überflüssig und die Heizung schaltet sich bei geöffnetem Fenster aus.

Hannover. Der junge Mann hat erstaunlich lange, gebogene Wimpern. Ab und zu blinzelt er unter der verkabelten Kappe - mehr bewegt sich an ihm nicht, während er am Flipperautomaten spielt. Seine Hände liegen reglos im Schoß. Er simuliert einen Ganzkörpergelähmten. Trotzdem schnellt der Ball im Automaten immer wieder hoch, wie von Geisterhand gelenkt. "Der Proband steuert den Flipper durch Hirnsignale", erklärt Michael Tangermann, Projektleiter beim Berliner Brain-Computer-Interface (BBCI), einem weltweit führenden Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin. Wenn sich der junge Mann seine Handbewegungen vorstellt, übertragen die Sensoren in der Kappe die Signale und setzen sie am Flipper um. Gut möglich, dass Gelähmte irgendwann sogar einen Rollstuhl mit der Macht ihrer Gedanken lenken können.

Willkommen im Mekka der Informationstechnologie, der Cebit 2010 in Hannover. Nichts scheint hier unmöglich. Die Messe ist wie ein Realität gewordener Science-Fiction-Film, zum Teil mit fesselnden Ideen, zum Teil in eher schlechter Qualität. So oder so: "Das Netz verändert unser Leben massiv", sagt August-Wilhelm Scheer, Präsident des Hightechverbands Bitkom. Und die 4150 Aussteller in 19 Messehallen wollen den Alltag noch weiter verändern, ihre Konzepte, Produkte, Visionen verkaufen. Dem Leben in Deutschland ihren Stempel aufdrücken. Die virtuelle Welt und ihre Technologien noch wichtiger für die Realität machen. 2011 sollen die deutschen Hightechunternehmen nach Schätzungen 142 Milliarden Euro umsetzen. Die große Hoffnung: Dass die Branche dazu beitragen kann, gesellschaftliche Probleme wie den Ärztemangel, das Apothekensterben oder den drohenden Energieengpass zu lösen.

Wie die medizinische Betreuung der Zukunft aussehen könnte, zeigt Aldona-Maria Pigozzo. Die PR-Frau sitzt an einem Wohnzimmertisch, darauf stehen eine Vase mit Osterglocken und der neue Telemedizinapparat von Bosch Healthcare. Dieser sogenannte Health Buddy (zu deutsch: Gesundheitskumpel) soll den Arzt ersetzen, den ein chronisch kranker Mensch regelmäßig aufsuchen muss. Aldona-Maria Pigozzo befestigt den Blutdruckmesser am Oberarm, einen Pulsoximeter am Finger und klickt sich durch die vielen Fragen, die ihr das etwa DIN-A5-große Gerät stellt. "Wie viel wiegen Sie heute?", will es wissen. "Wie ist Ihr Appetit?" Muss sie heute mehr husten, fühlt sie sich schwächer als sonst? Sind alle Punkte abgefragt, reisen die Daten über eine einfache Telefonverbindung zum behandelnden Arzt. Der analysiert den Gesundheitszustand und bestellt die Patientin notfalls in die Praxis. "Chronisch kranken, alten oder depressiven Menschen erspart das viele Arztbesuche - in Zeiten von klammen Krankenkassen und Ärztemangel ein großer Trend", sagt Bosch-Manager Roland Hüppmeier. 100 000 Patienten würden bereits in den USA per Telemedizin betreut, in Deutschland steigt die Asklepios Klinik jetzt ein. Und warum sollte die Technik nicht in zehn Jahren auch Wellness, Diätprogramme oder Hochleistungssport unterstützen?

Auch wer Medikamente braucht, kann sich im Gesundheitssystem der Zukunft vertrauensvoll an einen Automaten wenden. "Unser Mediterminal übernimmt den Nacht- und Wochenenddienst", sagt Jens Wiegland, der bei der Firma Rowa für diesen Bereich verantwortlich ist. In seiner eigenen Apotheke bei Mainz ist das Gerät bereits an der Außenwand installiert. "Sie möchten eine Beratung?", quäkt es, als Wiegland einen Knopf drückt. Richtig gehört: Bei apothekenpflichtigen Medikamenten muss das mannshohe Gerät über eine Webcam einen Apotheker im Nachtdienst zuschalten, auf Leute vom Fach könne also nicht verzichtet werden. "So werden wir mit unseren stationären Apotheken ebenso flexibel wie der Internethandel", erklärt Wiegland. Seine Vision für die Kranken in Deutschland: Dass in ländlichen Gegenden niemand mehr Stunden zur Notapotheke fahren muss, dass moderne Navigationsgeräte den nächstgelegenen Mediterminal anzeigen.

Komfortabler, kostengünstiger und vernetzter soll nach Branchenvorstellungen auch das Wohnen und Arbeiten von morgen werden. Vor allem aber ökologischer. Das Zauberwort heißt Green IT, auf Deutsch: grüne Technologie. "Für unsere Branche ist Umweltschutz keine Last, sondern eine Chance", sagt Bitkom-Präsident Scheer. Einer Studie zufolge könnten dank Hightechlösungen noch in diesem Jahr bis zu 25 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden. So demonstriert das Fraunhofer-Institut schon, wie Nutzer per Handysoftware festlegen können, wann die Waschmaschine starten soll - etwa in der Nacht oder bei viel Wind, wenn dank differenzierter Tarife der Strom billig ist. Die Energiekosten sollen auch deshalb sinken, weil Hausbesitzer die Temperatur in allen Räumen künftig per Fernbedienung steuern. Funkbetriebene Schalter machen viele Meter Kabel unnötig. Fenstergriffe schalten automatisch die Heizung aus, sobald sich ein Fenster öffnet. Telefonanlagen im Internet ersetzen den Anrufbeantworter, intelligente Stromzähler finden jedes Energieschlupfloch. Der Trend zur Heimvernetzung könnte bereits in wenigen Jahren rund zehn Milliarden Euro Umsatz jährlich bringen, schätzt Bitkom.

Robert Huber aus München will überflüssige Technik hingegen abschaffen. "Die Handys werden immer winziger, das Tippen von SMS immer komplizierter", klagt er. Mit seinem Start-up Dictocom hat er deshalb die Sprach-SMS erfunden. Das System ist bestechend simpel und schnell demonstriert: Huber wählt eine Münchner Festnetznummer, spricht eine Nachricht an seine kranke Frau ein. Die Software wandelt sein "Gute Besserung, Schatz" in Text um und schickt sie auf das Handy der bettlägerigen Frau Huber. Ein bodenständiger Gegenentwurf zu den futuristischen Hightechlösungen, mit denen die Firmen um ihn herum protzen. Ein erstaunlich bescheidenes Bild von ihrer Zukunft malen auch die Giganten aus dem Netz. Eine verwaiste, wenig interaktive Sitzbank ist das weltliche Pendant des sozialen Netzwerks Myspace, das online Hunderte Millionen Nutzer verbindet. Und der Suchmaschinenriese Google hat nicht einmal sein neues Smartphone Nexus One dabei, das im Frühjahr auf den deutschen Markt kommen soll. Fast verschämt hat sich der Konzern erst kurz vor Messebeginn angemeldet - zum ersten Mal überhaupt. Ein bisschen Öffentlichkeitsarbeit für den Internetdienst "Street View" ist nach der lautstarken Kritik wegen Datenschutzverletzungen offenbar angesagt. Hübsche Kunststudentinnen sollen es nun richten: In Einteilern bemalen sie drei Opel Astra, anhand Kameras auf den Dächern unschwer als "Street-View"-Fahrzeuge zu erkennen. Der Geruch von frischer Farbe steigt auf, als eine Studentin ein rotes Monster auf die Tür zeichnet. Mit aufgerissenem Mund und spitzen Zähnen verschluckt es kleine gelbe Wesen.