In Harburg wächst eine neue, moderne Wirtschaft heran. Angetrieben von mutigen Unternehmern und der Politik schreitet der Strukturwandel voran.

Fotos von Airbus-Flugzeugen hängen gerahmt an nackten, runden Betonwänden. Die Einrichtung der Büros ist spartanisch, der Blick über Harburg dafür erhebend. Beim Unternehmen case4de werden weitreichende Gedanken bewegt. "In den Zukunftswerkstätten von Airbus umreißt man jetzt bereits das Flugzeug für die nächsten 20 bis 30 Jahre", sagt Geschäftsführer Wolfgang Schneider. "Daran sind wir mit einem kleinen, feinen Team beteiligt."

Klein und fein, so präsentiert sich das Unternehmen in seiner Büroetage in einem früheren Getreidesilo am Harburger Binnenhafen. Hier, im Viertel des sogenannten Channel Hamburg, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Zentrum von Hochtechnologieunternehmen entstanden, die vor allem für den Flugzeughersteller Airbus arbeiten, aber auch für die Telekommunikations- und die Automobilbranche oder für die Medizintechnikindustrie. Das alte Silo, dessen Betonröhren mit einem verglasten Kubus überbaut wurden, zeigt wirtschaftlichen Wandel auf einen Blick. Wo früher Schlote rauchten und Menschen schwitzten, wo Muskelkraft und Schwermaschinen die Wirtschaft bewegten, da wird heute gestaltet, gerechnet, geplant - leise, sauber und effizient. Im Kleinen steht der Channel Hamburg, steht eine Firma wie case4de für den Strukturwandel der deutschen Industrie insgesamt: von der Fabrik zur Denkfabrik.

Der Unternehmer Veysi Karaca gründete case4de im Jahr 2003 in Hannover als einen Dienstleister für die "Systemintegration" in der Industrie. 2006 zog das Unternehmen nach Harburg, "weil wir damals fast ausschließlich für Airbus arbeiteten, und weil alle Bedingungen hier in Harburg ideal sind", sagt Geschäftsführer Schneider. Die mittlerweile 100 Mitarbeiter von case4de, hoch qualifizierte Ingeniere oder Computerdesigner, verbinden mithilfe virtueller Animationen die Baugruppen für die Einrichtung von Airbus-Jets. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Produkte aller Zulieferer am Ende zusammenpassen.

Das macht noch immer rund 90 Prozent des Geschäfts aus. Doch das Zielgebiet von case4de ist die Transportwirtschaft im weiteren Sinne. Dazu gehören auch die Automobilhersteller, die Werften und die Anbieter von Schienentechnologie. "Wir wollen zunächst vor allem unser Geschäft mit der Automobilwirtschaft ausbauen", sagt Schneider. "Der Automobilbau verändert sich dramatisch. Das Gewicht der Fahrzeuge muss in den kommenden Jahren mithilfe moderner Materialien deutlich gesenkt werden, um den Spritverbrauch zu reduzieren. Da ist die Flugzeugindustrie der Automobilwirtschaft weit voraus." In wenigen Jahren sollen bereits 400 Menschen für case4de arbeiten. Die Flugzeugindustrie wird dabei bis auf Weiteres das Aushängeschild des Unternehmens bleiben, sagt Schneider: "Wir planen gerade den fliegenden Palast für einen arabischen Prinzen."

Das Wachstum der Luftfahrtindustrie ist eine der großen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten, die Hamburg seit der deutschen Einheit gelangen. Rund 36 000 Menschen arbeiten derzeit in der Branche, deren führende Arbeitgeber in Hamburg Airbus, Lufthansa Technik und der Flughafen Fuhlsbüttel sind. Rund 18 000 Mitarbeiter gehören zu den mehr als 150 Flugzeugzulieferern in der Stadt und an der Peripherie. Von deren Wachstum - etwa bei Unternehmen wie case4de - hat vor allem Harburg profitiert, seit Jahrzehnten das industrielle Herz der Stadt. "Im Hamburger Süden sind wir von einer Schlotindustrie schon lange weg hin zu einer Wissensinsel mit Hochtechnologie und ingenieurgetriebenen Dienstleistungen", sagt Wirtschaftssenator Axel Gedaschko. "Nördlich der Elbe wird das allerdings noch nicht richtig wahrgenommen."

In den vergangenen Jahrzehnten musste Harburg einen schweren Aderlass verkraften. Bei Unternehmen wie Phoenix, der New York Hamburger Gummiwaaren Compagnie, bei Unilever und anderen fielen Tausende Arbeitsplätze weg. Rechtzeitig allerdings entstanden auch neue. Die Hauptanziehungspunkte dafür sind heute Airbus, das Autoteilewerk von Daimler, das Geschäft rund um den Hafen - und die Technische Universität Harburg, die unter anderem Studiengänge für den Flugzeugbau und die Logistikbranche bietet.

"Die Entwicklung der vergangenen Jahre war sehr positiv", sagt Torsten Meinberg, der Leiter des Bezirksamtes Harburg. "Das hing mit der guten Auftragslage bei Airbus und Daimler zusammen, aber vor allem auch mit der TU. Die Universität ist mit der regionalen Wirtschaft eng vernetzt. Das führte zu etlichen Ausgründungen, zu Startup-Unternehmen von Studienabsolventen. Harburg steht heute wesentlich besser da als vor zehn Jahren."

Erheblich dazu beigetragen hat der Harburger Bauunternehmer und Investor Arne Weber, der Erfinder des Projektes Channel Harburg (Harburger Kanäle), das heute Channel Hamburg heißt. Er rettete, auch auf eigenes Risiko, alte Bauten wie das ehemalige Getreidesilo vor dem Abriss. So schuf er die Grundlage für die architektonische Verbindung der alten mit der neuen Harburger Industrie, ein Zentrum für die Ansiedlung vieler junger Unternehmen.

Die Arbeitslosenstatistik verbirgt diesen Erfolg auf den ersten Blick. Im September wies Harburg eine Arbeitslosenquote von 10,2 Prozent aus gegenüber 8,6 Prozent in Hamburg insgesamt. Das Bild allerdings täusche, sagt Rolf Steil, der Chef der Hamburger Arbeitsagentur: "Die Entwicklung am Arbeitsmarkt im Hamburger Süden ist eindeutig positiv. Die Statistiken werden anhand der Wohn- und nicht der Arbeitsorte erhoben. Viele Menschen, die in Hamburg-Harburg arbeiten, wohnen außerhalb der Stadt." Dafür sprechen auch die Zahlen des benachbarten Landkreises Harburg, der zu Niedersachsen gehört. Hier lag die Arbeitslosenquote im September bei gerade mal 5,1 Prozent.

Die Verbindung der Hamburger Wirtschaft zwischen dem nördlichen und dem südlichen Stadtteil sei bereits zur Mitte des Jahrzehnts gelungen, heißt es im aktuellen "Mittelstandsindex" des Haspa. Eine Lücke aber klafft noch: Die Elbinsel Wilhelmsburg, mit rund 13 Prozent Arbeitslosigkeit einer der sozialen und wirtschaftlichen Brennpunkte Hamburgs, hat der Aufschwung bislang nicht erreicht. Doch es gibt Hoffnung, dass auch in dem traditionellen Arbeiter- und Hafenstadtteil zwischen Norder- und Süderelbe der wirtschaftliche Anschluss gelingen wird.

Sie ruht auf dem sogenannten Sprung über die Elbe, die den Ausbau der Verbindungen zwischen den nord- und südelbischen Stadtteilen bezeichnet, und sie ruht auf einem möglichen Umzug der Hamburger Universität in Richtung Hafen. "Wilhelmsburg könnte von einer Stärkung des Hamburger Hafens als Universalhafen enorm profitieren", sagt Frank Horch, Präses der Handelskammer. "Dazu gehört der Ausbau der Logistikwirtschaft, aber auch des Tourismus und ein teilweiser Umzug der Universität in Hafennähe. Wenn die Stadt einen Teilumzug beschließt, wäre der ideale Standort dafür aus unserer Sicht das Klostertor, der bisherige Standort des Großmarktes."

Mithilfe des Hafens und der Universität könnte Wilhelmsburg der wirtschaftliche Brückenschlag gelingen. "Wilhelmsburg stand viele Jahre lang nicht im Fokus der Politik. Das hat sich 2008 geändert. Der Stadtteil gehört nun nicht mehr zum Bezirk Harburg, sondern zu Mitte", sagt Jochen Winand, Vorstandsvorsitzender der Entwicklungsgesellschaft Süderelbe AG. "Dass die CDU den Sprung über die Elbe zum Regierungsprogramm gemacht hat, bietet Wilhelmsburg große Chancen. Die Wirtschaft hier war immer schon kleinteilig und mittelständisch organisiert. Das ist ein erheblicher Vorteil."

An erfolgreichen Unternehmern mangelt es in Wilhelmsburg nicht. Einer von ihnen ist Matthias Knaack. Sein Vater hatte sich 1963 mit einem Abschleppdienst selbstständig gemacht und drei Jahre später den ersten Mobilkran gekauft. Daraus wurde eine Firma mit derzeit 100 Mitarbeitern und 40 Kranlastwagen, die Vater und Sohn gemeinsam führen. Die Hebekraft der Maschinen reicht von zwei bis 500 Tonnen. "Wir haben gerade unseren ersten 600-Tonnen-Kran bestellt", sagt Knaack auf dem Betriebshof inmitten seiner gelben Schwerlastfahrzeuge. Fünf Millionen Euro kostet der Neue. Das investiert Knaack trotz Wirtschaftskrise. "Wir haben in dieser Krise niemanden entlassen müssen", sagt er.

Sein Geschäft wächst, weil Knaack seinen Standortvorteil nutzt, fast in der Mitte einer Metropole und zugleich eng verbunden mit mehreren Autobahnen. Ob am Michel oder an der Elbphilharmonie, wenn es in der Stadt etwas zu heben gibt, ist Knaack dabei. Besonders wichtig ist auch für ihn der Hafen. Der fällt zwar als Wachstumsmotor einstweilen aus. Dafür aber boomt das Geschäft beim Bau von Windturbinen in ganz Nordeuropa - ebenfalls ein Fall für Knaacks mächtige Teleskopkrane. Seine bislang größten, die 500-Tonner, kann er an diesem Tag leider nicht zeigen. Alle drei sind unterwegs, in Deutschland, Schweden und Italien. "Wilhelmsburg", sagt Knaack, "ist eben eine sehr gute Adresse."