Der Rummel um die bissige Alligator-Schildkröte Lotti hat dem schwäbischen Ort Irsee reichlich Aufmerksamkeit beschert. Doch auch nach zweimonatiger Suche bleibt das Tier verschwunden.

Irsee. Andreas Lieb ist inzwischen Schildkröten-Experte. „Was sie fressen, wie sie sich verhalten, bewegen und fortpflanzen – ich weiß fast alles über die Tiere“, sagt er. Dabei ist Lieb nicht etwa Zoologe, sondern Bürgermeister der Ostallgäuer Gemeinde Irsee. Sein umfangreiches Wissen ist allerdings nur auf eine Art beschränkt: auf die Alligator-Schildkröte.

Denn eine solche soll es in einem Naturbadesee in Irsee geben. Vor zwei Monaten hatte sich ein Kind dort eine blutende Fußverletzung zugezogen. Experten sagten, dass es sich um den Biss einer Alligator-Schildkröte handeln könnte. Doch Lotti, wie das Reptil genannt wird, bleibt seitdem verschwunden. „Wir finden sie noch“, ist Lieb felsenfest überzeugt. „Irgendwann, wenn niemand mehr damit rechnet, taucht Lotti auf.“

Es war ein äußerst spannender Sommer, den der 1400-Seelen-Ort seit dem Unfall am 5. August erlebte. Mit allen Mitteln versuchte die Gemeinde mit Hilfe von Experten, das Tier aufzuspüren. So wurde zwischenzeitlich das Wasser des Badesees abgelassen und der schlammige Grund mit einem Spezialrechen und langen Holzstangen durchsucht. Auch Nachtsichtkameras, Lebendfallen und Spürhunde wurden bei der Jagd auf Lotti eingesetzt. Bislang vergebens. Auch die selbst ernannten Kopfgeldjäger, die auf die ausgesetzte Belohnung von 1000 Euro aus waren, hatten keinen Erfolg. „In manchen Nächten waren ganze Suchtrupps mit Taschenlampen unterwegs. Bei so einem Trubel kommt die natürlich nicht raus“, sagt der Experte Lieb.

Für zusätzliche Unruhe im Ort sorgten die vielen Journalisten und Kamerateams aus dem In- und Ausland, die sich plötzlich für den Oggenrieder Weiher interessierten. „Der absolute Wahnsinn, was bei uns los war – und welche Kreise die Sache gezogen hat“, blickt der Bürgermeister zurück. Sogar bis auf das Titelblatt einer Zeitung in den USA und in die Topnachrichten eines neuseeländischen Senders habe Lotti es geschafft. „Die Monsterschildkröte aus Irsee kam direkt nach dem Giftgasangriff in Syrien.“

Auch reichlich Kurioses erlebte Irsee in den vergangenen Wochen. So gab es am Ufer des Weihers eine Demonstration von Vertretern der Umweltorganisation Greenpeace, die in Schildkrötenkostümen steckten. Für Aufregung sorgte ein 85-Jähriger, der sich mit einer ausgestopften Schnappschildkröte unter dem Arm am See zeigte.

Was auf den ersten Blick wie eine für das Sommerloch perfekt inszenierte PR-Aktion für die Gemeinde aussieht, ist für Lieb ein durchaus ernst zu nehmendes Thema. „Ich habe Sorgen, dass wir Lotti nicht finden. Wenn hier noch einmal etwas passiert, ist die Hölle los“, sagt der Bürgermeister und blickt auf den 16 000 Quadratmeter großen See. Warnschilder weisen auf die mögliche Gefahr hin: „Vorläufiges Badeverbot! Uferbereich wegen Schnappschildkröte bitte nicht betreten!“ Im nächsten Jahr werden sich hier trotzdem wieder hunderte Badegäste tummeln, sagt Lieb. „Die Sache wird schnell vergessen sein.“ Sicherheitshalber soll bis dahin das Kinderbecken vergittert werden, damit dort keine größeren Tiere hinein schwimmen können.

Noch haben die Menschen in Irsee Lotti aber nicht ganz aus ihren Köpfen gestrichen. In einer Bäckerei im Ort werden immer noch Lotti-Semmeln angeboten. „Wir backen nicht mehr so viele wie vor ein paar Wochen, aber die Nachfrage ist noch da“, sagt eine Verkäuferin. Die junge Frau aus Irsee ist ebenfalls davon überzeugt, dass es Lotti gegeben hat. Fraglich sei nur, ob die Schildkröte jetzt immer noch im Weiher ist oder inzwischen ein Phantom gejagt wird. Sie wisse daher noch nicht, ob sie nächstes Jahr wieder in dem See baden wird. „Vielleicht mit vielen anderen zusammen. Alleine sicher nicht.“

Feuerwehrkommandant Thomas Reuter, der die Schildkröten-Jagd von Anfang an begleitet hat, fährt täglich zum Oggenrieder Weiher. Er ist dafür zuständig, die Lebendfallen zu kontrollieren. Hin und wieder trifft er noch Auswärtige, die dem „Lotti-See“ einen Besuch abstatten. Reuter glaubt nicht mehr daran, die Schildkröte – falls sie denn überhaupt existiert – vor dem nächsten Frühjahr zu finden. „Es ist ihr jetzt zu kalt, die hat sich schon zum Winterschlaf vergraben.“ Sollte er das nach Expertenschätzung bis zu 20 Kilogramm schwere Reptil eines Tages entdecken, wüsste er genau, was zu tun ist. „Man hat uns gezeigt, wie wir es anfassen müssen.“

Dem achtjährigen Bub, dem bei dem Unfall die Achillessehne zweimal durchtrennt wurde, geht es wieder besser. „Nächste Woche ist er seinen Gips los“, sagt der Bürgermeister, der Kontakt zu der Familie hält. Der Unfall am 5. August habe ihm allerdings nicht nur körperlich geschadet. „Er hat Albträume und wacht nachts auf.“ Groll gegen die Schildkröte hege der Bub aber nicht, weiß Lieb: „Er hat mir geschrieben, dass er Lotti nicht böse ist und dass wir sie nicht töten sollen. Er will später einmal Naturforscher werden.“