Alltag in Hamburg.Wie eine fünfköpfige Familie von 400 Euro netto im Monat lebt und trotzdem nicht den Mut verliert. Ein Hausbesuch.

Der Rasen ist sauber gemäht an der ruhigen Wohnstraße in Farmsen, mit der U-Bahn-Linie 1 gerade 25 Minuten von den Shopping-Paradiesen am Jungfernstieg entfernt. Eine kleinbürgerliche Siedlung aus den Nachkriegswirtschaftswunderjahren mit netten Rhododendron-Büschen vor der Tür. Nur Spielgeräte für Kinder sucht man auf diesen Grundstücken vergebens.

In einem dieser rotgeklinkerten Reihenhäuser steht Claudia Viebranz, 45, in der Küche. Die schlanke, dunkelgelockte Frau bereitet für ihre Familie das Abendessen vor: gefüllte Paprika mit Reis. Ein Leckerbissen. Tobias (23) und Martin (17) sind von der Arbeit gekommen, Kevin (13) und Vivien (7) aus der Schule. Tochter Melanie (20) wohnt mit den Enkelkindern Anna-Sophie und Leonie vorübergehend wieder hier. Nur der Älteste, Dennis (25), ist aus dem Haus. Eine ganz normale Familie?

Claudia Viebranz ist gerade von einem Behördengang nach Hause gekommen. Ihre Arbeitsberaterin hatte um ein Gespräch gebeten. Es ging mal wieder um einen Ein-Euro-Job. "Am besten sollte man zu jedem Behördengang einen Zeugen mitnehmen", sagt die alleinerziehende Mutter und schüttelt den Kopf. "Sie glauben nicht, was Sie da zu hören bekommen."

Wenn Milch und Butter wieder um ein paar Cent teurer geworden sind, mag das für viele ein schnell verrauchender Grund für Zorn sein. Claudia Viebranz dagegen muss immer wieder neu abwägen. Ihre Rechnung ist einfach. 1450 Euro bekommt sie vom Staat, plus 450 Euro Kindergeld. Davon gehen ab: Miete, Strom, Wasser, Telefon, Versicherungen. Da bleiben manchmal nur 350 bis 400 Euro im Monat - für die ganze Familie.

Nach der Statistik ist jeder achte Deutsche arm. Tendenz steigend. Diese Frau und ihre Familie geben der Zahl ein Gesicht.

Die Armut ist hier auf den ersten Blick nicht zu sehen - und doch spürbar. Die Wohnung ist sauber, aber abgenutzt. Gemütlich eingerichtet, aber eben schlicht. Wuchtige Holzmöbel, kleine Bilder im Hausflur, ein paar Pflanzen. Nur wer genau hinsieht, entdeckt, dass mancher Farbanstrich seine besten Zeiten hinter sich hat.

Claudia Viebranz ist eine starke Frau. "Ich schäme mich nicht dafür, dass ich Geld vom Staat bekomme", beginnt sie ihre Geschichte. Nur selten bringt sie ihr gewinnendes Lächeln ein, zum Beispiel dann, wenn Martin und die kleine Anna-Sophie abwechselnd auf der Ukulele spielen, wenn Vivien erschöpft auf dem Sessel einschläft oder wenn Kevin stolz in seinem Buch "Unsere Zukunft ist jetzt" über Kinderschicksale blättert, in dem ihm die Fernsehjournalistin Monica Lierhaus ein Kapitel gewidmet hat.

Claudia Viebranz kommt aus einer ganz normalen Familie, in der Armut kein Thema war. Der Vater hat gearbeitet, die Mutter blieb zu Hause. Das Gehalt reichte für die klassische Dreiteilung: ein Drittel für die Wohnung, ein Drittel für Lebensmittel und ein Drittel für Freizeit und Urlaub. Sie selbst dagegen sagt leise: "Ich war noch nie mit meinen Kindern in Urlaub."

22 Jahre war sie verheiratet, hat im Verkauf und in einem Lager gearbeitet. Bevor der erste Sohn kam. Mit 37 Jahren hat sie ihr jüngstes Kind zur Welt gebracht. Die Wohnung in Jenfeld wurde zu klein, das Wohnungsamt wies der Familie das Reihenhaus in Farmsen zu. Nie wird sie vergessen, wie damals ein Politiker in Wandsbek jovial sagte: "Wenn Sie noch ein Kind bekommen, werde ich Pate ..." Der soziale Absturz kam mit der Trennung von ihrem Mann. "Und richtig schlecht geht es mir erst, seit wir Hartz IV haben."

Das Reihenhaus hat 120 Quadratmeter, viereinhalb Zimmer. Eigentlich ausreichend für eine große Familie, sollte man meinen - für 692 Euro warm. Aber die Heizung streikt, die Einfachverglasung pustet die Energie auf die Straße, der Dachboden müsste dringend renoviert werden. Nur wie? Selbst wenn einer ihrer Söhne wegen einer Blasenerkrankung medizinische Hilfsmittel braucht, heißt es: Das ist alles im Regelsatz enthalten.

An diesem Tag hatte sie ein Brief ihrer "Arbeitsberaterin" ins Jobcenter bestellt. Wieder Aussicht auf einen Ein-Euro-Job, eine kurzfristig mögliche Billigstarbeit für vielleicht 130 Euro im Monat. "Flexibilität" muss der Arbeitsuchende mitbringen, sagen die Sachbearbeiter. "Dabei bin ich doch bereit, alles zu tun." Solange die Kinder versorgt sind. Sie hat eine Umschulung gemacht, ein Praktikum absolviert. Wer bei der Arbeitssuche das Wortungetüm mit dem Namen "Eingliederungsvereinbarung" unterschreibt, liefert sich vollständig dem Gutdünken der Behörde aus. Ein abgelehnter Ein-Euro-Job kann da schnell mal Abzüge bedeuten. Und wenn mal ein beantragter "Unterhaltsvorschuss" im Nirwana der Buchhaltung verschwunden ist, heißt es: "Keine Sorge, das läuft ja nicht weg ..." Wie bitte? "Wir haben einen Fünf-Personen-Haushalt, der Kühlschrank ist leer. Was sollen wir machen, wenn die letzte Scheibe Brot verbraucht ist?"

Sie hat viele Strohhalme ergriffen, letztlich ohne Erfolg. Für die "Hamburger Arbeit" (HAB) arbeitete sie drei Monate in der Küche. Sie hat Putzjobs gemacht. Nächste Woche soll sie sich wieder bei der HAB melden. Für zehn Monate ist ein Ein-Euro-Job in Aussicht - irgendwo in Hamburg. Aber wie soll das gehen? "Mein Tag fängt morgens um fünf an, wenn der Wecker klingelt. Bis 12.30 Uhr habe ich zu tun, bis alles durch ist." Drei Maschinen Wäsche pro Tag, morgens aufhängen, abends zusammenlegen. Die jüngste Tochter geht von 8.30 bis 12.30 Uhr

zur Schule, darf nicht allein bleiben. Alleinerziehenden droht schnell das Jugendamt: Wehe, Kinder werden vernachlässigt! "Dabei würde ich mich sofort abends im Supermarkt an die Kasse setzen!"

Ihr bisher letzter Ein-Euro-Job brachte 130 Euro im Monat. "Aber ich muss die Fahrkarte selbst kaufen, das Mittagessen bezahlen. Am Ende bleibt nichts übrig." Nur das Gefühl, in der Statistik von einer Schublade in die andere gepackt zu werden.

Immer wieder muss sie Rückschläge hinnehmen. Nach einem erfolgversprechenden Praktikum lud sie einmal der Vorgesetzte zum Gespräch. "Ich hatte das Gefühl, die wollten mich wirklich haben." Zum ersten Mal Hoffnung auf Arbeit, eine richtige Stelle. Und dann, beim Gespräch, kamen die entscheidenden Fragen. Erstens: das Alter. 45, schon schlecht. Aber zweitens: Haben Sie Kinder? "Ach, schade. Dann können Sie ja nicht im Schichtdienst arbeiten ..." Das war's. Kinder als Startnachteil.

Was ist für sie Luxus? Wenn eine Lehrerin ihrer Kinder behauptet, sie würde sich für 600 Euro im Monat einkleiden, ist das für sie kein Maßstab. Claudia Viebranz hätte ganz andere Wünsche: Mal Urlaub machen. Die Wohnung renovieren. Eine neue Waschmaschine. Den Dachboden ausbauen. Von einem Auto wagt sie nicht mal zu träumen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Meist ist am Ende des Geldes noch zu viel vom Monat übrig. Bei einem Friseurbesuch müsste sie sich überlegen: Was koche ich dann die nächsten drei Tage zum Essen? Kino, Theater, eine spannende Illustrierte kommen nicht infrage.

Vor allem anderen geht es zuerst um die Kinder. Aber die Mutter kann nicht verhindern, dass sie ins soziale Abseits geraten. Kultur und Sport finden nur im Fernsehen statt. "Wir können nicht bei C & A oder H & M einkaufen, wir müssen auf Flohmärkte gehen. Aber oft weiß ich nicht: Wo kommen die Sachen her? Das ist schon eklig." Nur zu Weihnachten spendiert sie den Kindern in einer außergewöhnlichen Kraftanstrengung mal Nike-Turnschuhe. Jedes weitere Nein tut weh.

Sie ist froh, dass ihre Söhne so weit gekommen sind. Tobias arbeitet im Baustellen- und Gebäudeservice, Martin bei der Tischlerinnung, er hofft auf eine Lehre. Aber sie hört, wenn die Leute hinter ihrem Rücken tuscheln. "Hättste mal nicht so viele Kinder ..." Dann macht sie sich gerade. Ihre Würde gibt sie niemals auf. "Im Gegenteil! Die Kinder sind es, die mich aufrecht halten." Neuerdings auch die völlig unbelasteten Enkeltöchter Anna-Sophie und Leonie.

Manchmal kommt Nachbarin Miriam Selk zu Besuch, eine Frau mit einem ähnlichen Schicksal: Fünf Kinder, ein hart arbeitender Mann, und doch reicht es hinten und vorn nicht. "Wenn man in unserem Staat Kinder hat", sagt sie, "hat man schon verloren." Die Familien tauschen Erfahrungen aus, manchmal auch Kleidungsstücke.

Claudia Viebranz spürt die Blicke im Rücken, wenn sie mit drei Kindern und sechs Tüten aus dem Laden kommt. Sie fühlt sich unwohl, wenn sie bei den Behörden vor anderen Menschen über intimste Details sprechen muss. Sie verdrängt das latente Angstgefühl, dieses "Es nicht auf die Reihe kriegen". Aber sie ahnt, dass sie aus dem Teufelskreis kaum mehr herauskommen wird. Welche Empfindungen überkommen sie in dieser Situation? "Hass. Ich fühle mich diskriminiert und ausgeschlossen. Wer mehr als zwei Kinder hat, gilt als asozial. Nur von älteren Menschen bekomme ich positive Reaktionen - die freuen sich, wenn sie Kinder sehen. Viele andere stellen uns mit den Alkoholikern vom Bahnhof gleich."

Nur manchmal empfindet sie neben dem Zorn auch so etwas wie Scham. "Wegen meiner Kinder. Dann habe ich das Gefühl, ein Versager zu sein. Ich möchte so gern, aber ich kann nicht. Das packe ich dann ganz schnell weg. Ich sage mir: Es gibt Leute, denen geht es noch viel schlechter." Mit Hartz IV, sagt sie, ist es wie mit Beate Uhse. Da mag auch keiner zugeben, Kunde zu sein. Aber sie gesteht sogar den Menschen, die in einer völlig anderen Welt leben, ihren Reichtum zu: "Wenn sie dafür gearbeitet haben."

Jetzt also die Aussicht auf einen neuen Ein-Euro-Job. Und wieder tauchen Fragen auf. Was passiert in den Sommerferien, wenn sie nur drei Wochen freimachen darf? "Lass dich doch krank schreiben", raten ihr Freunde. "Nein", wehrt sie ab. "So etwas mache ich nicht."