50 000 Kinder in Hamburg gelten als arm. Viele von ihnen bekommen morgens nicht einmal ein Frühstück. Und wenn sie aus der Schule kommen, wartet niemand auf sie. In Jenfeld wartet die Arche auf diese Kinder - und eine warme Mahlzeit jeden Tag.

s ist der erste Tag, an dem er selbst etwas mitgebracht hat. Daniel hat heute Geburtstag. Nach der dritten Schulstunde ist er gleich in die Arche, nicht nach Hause. Es ist kurz vor zwölf, das Kinder- und Jugendzentrum ist noch ziemlich leer. Denn außer Daniel ist noch kein Kind da. Er sagt, dass er zehn Jahre alt geworden ist, dabei ist heute erst sein neunter Geburtstag. Allein rennt er den Flur des neuen Gebäudes entlang, öffnet Türen, klappt sie auf und zu, und lungert vor dem Büro der Betreuer rum. Das Geburtstagskind fragt: "Willst du mit mir Billard spielen?"

Kuchen hat er dabei. Mamorkuchen, in Plastik verpackt, aus dem Supermarkt. Ein Kuchen, bei dem Mütter aus besseren Stadtteilen, die Nase rümpfen würden. "Nicht selbst gebacken." Jenfeld ist kein besserer Stadtteil. Jenfeld ist ein Synonym für Vernachlässigung. Der Stadtteil Hamburgs, in dem der 1. März 2005 kein Datum ist, sondern der Todestag von Jessica. Was Rüdiger Bagger von der Hamburger Staatsanwaltschaft damals aussprechen musste, schockierte: "Bei der Obduktion handelte es sich um ein Kind von sieben Jahren. Es wog noch 9,5 Kilo. Das entspricht dem Gewicht eines zweijährigen Kindes. Das Obduktionsergebnis hat erbracht, dass sich durch die Mangelernährung Kotstein im Darm abgesetzt hat und dadurch ein Darmverschluss stattgefunden hat. Dass bei der dann gegebenen Ernährung ein Erbrechen stattgefunden hat, und dann ist das Kind erstickt." Es waren die Eltern, die das Mädchen in einen Raum gesperrt hatten und dort sich selbst überließen. Jenfeld war damals am Ende. Es musste etwas getan werden. Die Arche wurde gegründet. Seit Januar 2006 gibt es dieses Haus für die Kinder von Jenfeld.

In Hamburg gelten etwa 50 000 Kinder als arm, Kinder, die sogenanntes Sozialgeld bekommen.

Im Billardraum sucht sich Daniel entschieden den besten Queue aus, baut die Kugeln auf und stößt kräftig an. Er ist geübt. Er hat die Vollen. Zu Hause sei noch keiner. Seine Mutter arbeitet in einem Cafe, wie er sagt, und sein Vater wäscht an einer Tankstelle Autos. Formal ist er kein armes Kind. Zwei Betreuer kommen in den Raum, sie singen Happy Birthday, laut und schwungvoll, und werfen ihn so hoch, dass er sich beinahe den Kopf an der Deckenlampe stößt. Daniel versucht cool zu bleiben und sich nicht zu sehr zu freuen. Als er wieder unten ist, fragt er die beiden: "Könnte ich vielleicht mein Geschenk schon heute haben?"

Dabei ist erst morgen der Geburtstagsfeiertag für alle Kinder, die regelmäßig in die Arche kommen und im Mai geboren sind. Daniel ist eines von 80 Kindern, die die Arche täglich besuchen. Sie spielen, ruhen, belegen Computer-, Tanz- und Kochkurse. Machen Hausaufgaben und bekommen Nachhilfe. Alles ist kostenlos. Auch das Essen, mittags warm, eine Vollwert-Mahlzeit, Fleisch, Kartoffeln oder Reis und Gemüse, dann noch Nachtisch.

Daniel wirkt nicht vernachlässigt, Daniel wirkt auch nicht arm. Er trägt saubere Kleidung, ein blaues Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe, sein dunkelblondes Haar ist frisch geschnitten. Er hat keine Lust mehr auf Billard, denn inzwischen sind schon andere Kinder da. Er läuft raus auf den Vorplatz des Hauses. Tür auf, Tür zu.

Einer der Betreuer, die ihn haben Hochleben lassen, ist Tobias Lucht, er leitet die Arche. Einige Kinder kommen in sein Büro, auch Daniel, er schaut sich um, fragt, "Ist das eine Rechenmaschine?", er verlangt seine Aufmerksamkeit. Als der Junge wieder draußen ist, spricht Tobias Lucht von materieller und emotionaler Armut. Auf die Frage, was für Kinder zur Arche kommen, sagt er: "Kinder, die arm sind. Aber in Deutschland ist Armut nicht unbedingt sichtbar. Jeans und T-Shirt hat hier jeder an."

Er erzählt von Eltern, die überfordert sind mit ihrer eigenen Situation, von Hartz IV oder Suchtproblemen, von Familien, in denen der Vater plötzlich krank geworden ist. "Kinder haben dann oft einen ziemlich geringen Status", sagt er. Manche Kinder verbringen ihr gesamtes Wochenende vor dem Computer oder der Playstation. Sind nicht mit den Eltern in den Park gegangen oder ins Schwimmbad. Stattdessen haben die Eltern auch vorm PC gesessen. "Unser größter Feind ist wirklich die Playstation. Jeder Tag, den wir sie davon wegbekommen, ist ein gewonnener Tag." Auch über die üblichen Statussymbole, die über Armut hinwegtäuschen, verfügten die meisten Kinder. Fast jedes habe ein Handy, und ginge man dann in die Wohnungen der Eltern, stünden dort Plasmabildschirme. Aber kein Mittagessen auf dem Tisch. Manche Kinder kommen nach der Schule in die Arche und haben bis dahin noch nichts gegessen. Kein Frühstück, kein Pausenbrot.

In der Cafeteria der Arche stehen Tische aus hellem Holz, über eine Theke wird den Kindern das Essen gereicht. Heute gibt es Gulasch mit Möhren und Kartoffeln. Nie gibt es Schweinefleisch, weil unter den 80 Kinder auch viele Muslime sind. Nur 20 Prozent der Kinder sind deutscher Herkunft.

An einer Wand der Cafeteria stehen auf gelber Pappe Regeln geschrieben. Man soll sagen, ob man viel oder wenig Hunger hat, damit nichts weggeschmissen werden muss. Man muss von jedem etwas nehmen und alles zumindest probieren. Auch Gemüse. Regeln, die eigentlich selbstverständlich sind, auch dass man sitzt beim Essen und sich erst Nachschlag holt, wenn man aufgegessen hat.

Eine Gruppe Schüler der Otto-Hahn-Gesamtschule hat sich an einen Tisch gesetzt. Drei Jungs, alle 16 Jahre alt, in der neunten Klasse. Sie sind modisch gekleidet, David hat drei Handys. Sie essen Gulasch. Goran holt sich Nachschlag. An der Schule gibt es eine Kantine, aber alle drei finden, dass dort das Essen zu teuer ist. "2,50 Euro für den Matsch", sagt Goran als er zurück ist. Das Essen in der Arche kostet nichts und schmecke besser. Goran erzählt, dass manche seiner Mitschüler jeden Tag in der Schulkantine essen. "Die, die voll reich sind." Bevor sie gleich zurück zur siebten Stunde müssen, holt sich Goran noch einen Teller. Dann isst er seinen Nachtisch, eine Banane, und die von David auch noch. Er isst auf Vorrat.

Ein afrikanisch-stämmiger Mann bringt seine zwei Kinder in die Cafeteria. Die Geschwister sind vier und sechs Jahre alt. Die Kleinen stellen sich in die Schlange der Essenausgabe. Zehn Kinder sind etwa noch vor ihnen. Der Vater bleibt am Eingang stehen und beobachtet sie. Als die beiden dann am Tisch sitzen mit einem vollen Teller vor sich, winkt er ihnen noch einmal vom Flur aus zu und geht. Richtig glücklich sieht er nicht aus, vielleicht wünschte er, er müsste sie nicht in ein Haus bringen, wo sie kostenlos essen können. Erst am Nachmittag, wenn die Arche schließt, holt er sie wieder ab.

Das Essen ist eigentlich recht schnell vorbei. Die Kinder stellen sich an, essen, bringen ihren Teller zurück. Nur ein paar Kinder passen nicht in diesen Ablauf. An einem Tisch sitzt ein Junge, seit mehr als einer halben Stunde. Sein Teller ist noch drei viertel voll. Er weint. Eine Betreuerin setzt sich zu ihm. Sie streichelt ihm den Rücken, es kommt heraus, dass er weint, weil er nicht aufessen kann. Die Betreuerin bringt seinen Teller für ihn weg, er beruhigt sich.

Wenn Eltern es nicht schaffen, für die Grundbedürfnisse ihrer Kinder zu sorgen, was für Chancen haben die Kinder dann? Tobias Lucht sieht aus, als bräuchte er für die Antwort Zeit. Als hinge an seinen Worten ein Gewicht. "Manche Kinder bekommen jeden Tag gesagt: Du bist nichts wert. Das manifestiert sich in ihrem Bewusstsein" und "Kinder können sich ohne Hilfe nur schlecht aus ihrer Schicht befreien." Er nennt Folgen von Armut - Depression und Vereinsamung. Beschreibt, was seit Langen aus Studien bekannt ist: das Gefühl, dass sich nichts ändert. Kinder aus bildungsfernen Familien bleiben Bildung eher fern als Kinder aus reichen oder Akademikerfamilien. Kinder, die aus typischen Sozialhilfefamilien kommen, in dritter Generation abhängig vom Staat, die sagen, wenn man sie fragt, was sie werden wollen: "Ich möchte Hartz-IV-Empfänger werden." Er beschreibt Kinder ohne Träume.

Daniel geht in der Cafeteria inzwischen von Tisch zu Tisch, redet hier, redet da, schmeißt ein Glas um, wischt auf. Er ist zu aufgeregt, es ist heute sein Geburtstag. Sein Marmorkuchen wurde schon aufgeschnitten und liegt neben den Bananen an der Theke. Gegessen hat er noch nicht. Von seinen Eltern wünscht er sich zum Geburtstag ein Handy .