Dreiviertel der Deutschen hat Angst vor dem ARMSEIN. Morgens aufzustehen und zu wissen, dass es am ABEND nicht reichen wird - das ist Armut. Und es gibt sie in Deutschland. Natürlich soll die POLITIK mit den richtigen Ideen Lösungen schaffen. Aber wir müssen auch etwas tun, meint STEPHANIE NANNEN: Aufpassen, dass die Armen nicht ausgeschlossen werden.

W ann immer der jeweils neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ansteht, wird großes Aufhebens gemacht. Schon vorher, nachher auch. Und ein paar Wochen geht das dann so. Vertreter der Medien schalten sich ein, finden arme Familien, arme Menschen, Trostloses, besonders Kinder, die vermutlich nie eine Chance in ihrem Leben haben werden. Jedenfalls keine auf ein einigermaßen geregeltes Einkommen - von Reichtum ganz und gar zu schweigen. Es wird erst erstaunt und dann wütend darauf hingewiesen, dass es Armut in diesem reichen Land gibt. Auch wenn sie vielleicht nicht ganz so deutlich sichtbar ist, wie es in den Entwicklungsländern üblich wäre. Dieses Darauf-Aufmerksam-Machen, die vielen Zeitungsartikel, die Talkrunden in Radio und Fernsehen - all das ist sicherlich auch richtig so. Weil Missstände aufgedeckt, beleuchtet und besprochen werden müssen.

Dieser Bericht, den Olaf Scholz nun unlängst vorgestellt hat, ist immer ein guter Anlass. Am 25. Juni wird er im Bundestag genauer besprochen werden; man wird versuchen, Konsequenzen daraus zu ziehen, Lösungen zu finden. Politiker der verschiedenen Parteien werden begründen, warum ihre Ausrichtung, ihre Ansätze diejenigen sind, welche die Armut verringern und den Menschen ein besseres Leben, eine höhere soziale Sicherheit und mehr Gerechtigkeit generieren sollen. Die Union will sofortige Entlastungen der geringer Verdienenden, eine Stärkung der Mittelschicht, und die Sozialdemokraten bleiben ihrem Ruf nach einem Mindestlohn treu und wollen den so genannten Reichen noch ein wenig mehr abzwacken. Man könnte hoffen, dass sie im Idealfall gemeinsam Recht behielten. Weil eine Lösung zur Vermeidung von Armut dringend gebraucht wird. Jenseits der Polemik, der Dialektik und der Parteiprogramme ist das ein wirklich ernst zu nehmendes Ziel für alle, die in diesem Lande etwas bewegen sollen und wollen.

Was aber, und darauf fällt eine Antwort zu geben tatsächlich schwer, was aber ist, wenn sich die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben oder aber akut von Armut bedroht sind, also verringert - was wir uns ja wünschen? Ist Armut weniger schlimm, wenn sie wenige trifft? Sind Zahlen hier der alleinige Maßstab? Ist es weniger schlimm, wenn eine Million Kinder in Deutschland an Hunger leidet anstatt zwei, ist es weniger traurig, wenn nur die Hälfte von einer glücklichen Kindheit weit entfernt ist? Ist es wirklich dramatischer, wenn jedes sechste Kind in Deutschland arm ist - wie Familienministerin von der Leyen herausgefunden hat - als wenn es jedes achte wäre, wie Arbeitsminister Olaf Scholz sagte? Zählt das? Darf das zählen? Was macht das mit den Armen, die es noch immer geben wird, wenn die Gesamtzahl verringert ist? Geht es denen dadurch besser, ist damit alles gut? Sie gehörten dann einer noch kleineren Gruppe der Gesellschaft an, einer Minderheit am Rand des Lebens der anderen. Wie fühlt sich das wohl an? Draußen zu sein? Nicht dazuzugehören? Das ist es, worüber wir uns unbedingt Gedanken machen sollten, jenseits der Zahlen von heute und von morgen: Wie fühlt sich Armut an? Jetzt oder später, ganz gleich.

In Vorträgen von Experten, politischen Diskussionen, im Armutsbericht selbst wird Armut zur Sache. Zu einem Problem, das uns moralisch alle angeht, auch berührt, aber das eben doch wenig mit uns persönlich zu tun hat. Dreiviertel der Deutschen haben Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes (eine der Hauptursachen für Armut), Angst vor der Zukunft. Angst vor Armut. Arm sind sie, sind wir deshalb noch nicht.

Wir, die wir zum Beispiel diese Zeitung lesen, die wir Geld für ein Abonnement einer Tageszeitung haben, damit wir uns informieren und am Tun und Lassen in dieser Stadt teilhaben können, wir sind nicht arm. Wir drehen den Groschen dreimal um, aber wir geben ihn am Ende trotzdem aus. Wir überlegen uns, wofür wir unser mühsam erspartes oder mit harter Arbeit erwirtschaftetes Geld ausgeben, ob für einen Theaterbesuch einmal im Vierteljahr oder für neue Sportschuhe, die die Tochter wirklich braucht, weil sie sonst in der Schulstunde nicht mehr mitmachen kann. Wir leisten uns einen guten Sonntagsbraten, wenigstens einmal im Monat. Vielleicht haben wir auch mal genug zusammen für einen kleinen Urlaub, nach Spanien oder an die See. Wer kein Geld hat, kann sich diese Gedanken nicht machen.

Der denkt darüber nach, wie er es schafft, seinen Kindern genügend zu essen auf den Tisch zu bringen. Und auch mal etwas Gesundes. Damit sie gut aufwachsen, die Kinder. Damit es ihnen nicht schlecht geht. Damit es ihnen besser geht, später einmal. Damit sie den Unterschied zu den Kindern in ihrer Klasse nicht so spüren. Der ohne genügend Geld ist, sorgt sich, wie er die Rechnungen für Strom und Wasser bezahlen kann, wie er Schulbücher kaufen soll und vielleicht auch einmal etwas zum Anziehen für die Kinder. Denn die wachsen aus den alten Sachen ja raus. Die Miete muss überwiesen werden. Er müht sich ab, hat noch einen Nebenjob und ist sowieso viel zu selten zu Hause, um seinen Kindern ein guter Vater zu sein - denkt er. Seine Frau arbeitet auch, und weil an einen Babysitter aus finanziellen Gründen gar nicht zu denken ist, sind die Kinder schon in sehr jungen Jahren viel allein. Er selbst isst sowieso schon gar nicht mehr so viel. Daran kann man sich gewöhnen. Am Ende geht es gerade so. Jeden Monat. Und am nächsten 1. beginnen die Sorgen von vorn. Das ist Armut in Deutschland. Es gibt sie, und sie trifft Familien genauso wie Alleinerziehende, besonders Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, mit oder ohne Schulabschluss, Ältere.

Wer sich nichts leisten kann, der kann an Aktivitäten, die die Gesellschaft bietet, nicht teilnehmen. Er bleibt außen vor. Gehört immer weniger dazu und fühlt sich ausgeschlossen.

Und es sind nicht immer die, die sowieso zu keiner Arbeit Lust haben, die arm sind. Nicht die, die jede Lehre geschmissen haben, wenn sie überhaupt eine wollten. Nicht die, die lieber von der Stütze leben, als sich frühmorgens aus dem Bett zu schwingen. Es ist nicht einfach so, dass sie es verdient haben, arm zu sein. Menschen geraten in Not. Unverschuldet.

Daran, übrigens, sind auch nicht die Reichen schuld. Der immer wiederkehrende Umkehrschluss, ja, dieses Begriffspaar an sich ist weder ständig gerechtfertigt, noch zielführend. Konstant ist abzulesen, dass sich das obere Drittel der Gesellschaft um die unteren kümmert. Daran ändern auch keine verringerten Steuersätze, Begünstigungen oder Abschreibungen etwas. Wer viel verdient, zahlt im direkten Vergleich das meiste Geld. Das ist auch gut so. Schließlich leben wir in einer Solidargemeinschaft. Solidarität mit denen, die nicht so viel haben, denen es schlechter geht, ist ein Prinzip unserer Gesellschaft, eines zu dem wir uns bekennen. Was nicht hilft, ist: Neid zu schüren. Denn der schlägt irgendwann in Hass um.

Und was hätten wir, was hätte das Land davon, wenn es hier einmal so zuginge wie "Wall Street Journal"-Autor Robert Frank es für Amerika heute beschreibt, wo die Reichen in einer anderen Welt leben, sich in "Richistan" abschotten und die Armen eine ausgeschlossene Gruppe jenseits der Gemeinschaft bilden? Diese Aussicht ist für Deutschland, in dem die Mittelschicht wegbricht und wo schon heute Menschen aus der Mitte der Gesellschaft in die Armut abrutschen, fatal.

Was vielleicht hilft, ist gelebte Solidarität. Eine, die nicht unbedingt mit Geld zu tun hat, sondern mit dem Versuch, die andere Seite zu sehen, zu verstehen, was da ist. Und wer die Menschen auf der anderen Seite sind - die Armen wie die Reichen. Zu sehen, dass "die Reichen" nicht einfach nur Schweine sind, wie oft so schön gesagt. Und dass die Armen nicht weniger wert sind. "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" - so lang ist es nicht her, dass Franz Josef Degenhardt den Klassismus der Nachkriegszeit kritisierte.