Welt AIDS Tag

Es gibt Dinge im Leben, die erzählt man noch nicht mal der besten Freundin. Weil sie es nicht verstehen könnte. Dass man mal mit ihrem Freund rumgeknutscht hat oder in den Mathelehrer verknallt ist. Oder dass man HIV hat. Diese Seuche, die nur Drogensüchtige und Schwule bekommen, wie alle denken. Diese Seuche, an der man selbst schuld ist, wie ihre Freundin denkt. "Wenn sie wüsste, dass ich HIV habe, dann würde sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen", sagt Sarafina. Es ist nicht ihr richtiger Name. Es ist der Name, den sie dieser HIV-positiven Frau gegeben hat, die sie ist - von der aber niemand etwas wissen darf. "Es geht nicht nur um mich, sondern auch um meine Familie. Die Leute würden nicht nur mich ausgrenzen, sondern auch sie", sagt Sarafina ruhig. Ohne Zorn, ohne Vorwürfe. So, als sei es vollkommen normal, 20 Jahre alt zu sein und HIV zu haben.

Für sie ist es "normal", wie sie sagt. Für sie ist es normal, abends die Zähne zu putzen, das Gesicht zu waschen und Medikamente zu nehmen. Für sie ist es normal, regelmäßig zum Arzt zu gehen und nicht über die Krankheit sprechen zu dürfen, nach außen hin jemand anders zu sein. Normal, aber neu. Denn es war nicht immer so.

Es gibt Dinge im Leben, die erzählt man noch nicht mal der eigenen Tochter. Weil man sie schützen will, und sie es nicht verstehen würde. Dass sie ein "Ausrutscher" war und man ihren Vater nie geliebt hat. Oder dass sie HIV-positiv ist. "Meine Mutter hat es mir erst erzählt, als ich 13 Jahre alt war", sagt Sarafina und erinnert sich, wie sie mit ihrer Mutter Fernsehen geguckt hat. Es ging um Aids. In einem Werbespot oder Nachrichtenbeitrag. Sarafina weiß es nicht mehr. Sie weiß nur noch, wie ihre Mutter plötzlich zu weinen anfing. Und zu erzählen. Dass Sarafina HIV-positiv ist. Dass sie sich irgendwo angesteckt hat. Später stellt sich heraus, dass sie es von ihrer Mutter hat. Dass diese sich in ihrem Heimatland Afrika beim Sex mit Sarafinas Vater mit HIV infiziert hat. Damals, 1986. Dem Jahr des internationalen Friedens, dem Jahr, in dem die US-Raumfähre Challenger explodiert. Und dem Jahr, in dem sich der Name Humanes Immunschwächevirus (HIV) für eine Viruserkrankung etabliert. In jenem Jahr gibt es mehr als fünf Millionen Infizierte. Sarafinas Mutter ist jetzt eine von ihnen. Ein paar Monate später bringt sie ihre Tochter zur Welt - und infiziert sie.

"In Deutschland hätte das vielleicht verhindert werden können, in Afrika nicht", sagt Sarafina. Dort macht man bei Schwangeren keinen HIV-Test, dort stecken Tausende infizierte Mütter ihre Kinder bei der Geburt oder beim Stillen mit dem Virus an. Dort sei alles anders als hier, sagt Sarafina. Hier, nach Deutschland, kommt Sarafina erst in ihrem dritten Lebensjahr.

Es ist das Jahr 1990. Das Jahr der Wiedervereinigung. Das Jahr, in dem Deutschland Fußball-Weltmeister wird und in dem ein rotes Armband zum Symbol gegen die Diskriminierung von HIV-Infizierten wird. Weltweit gibt es zehn Millionen Infizierte. Niemand ahnt, dass Sarafina eine von ihnen ist.

Das stellt sich erst Jahre später heraus, als sie Windpocken hat und so schwer erkrankt, dass sie ins Krankenhaus muss. Weil sie sich davon nicht erholt, machen die Ärzte einen HIV-Test. Das Ergebnis ist positiv. Es folgen Arztbesuche, Bluttests, Therapien. "Und trotzdem wusste ich nicht, was los ist. Man hat nur gesagt, dass mit meinem Blut was nicht stimmt." Sarafina glaubt ihrer Mutter, den Ärzten. Bis sie in der Schule über Aids sprechen. Als sie von den Symptomen der Krankheit hört, wird sie misstrauisch. Ängstlich. Ist das nicht genauso wie bei ihr? Muss sie nicht auch ständig zum Arzt? "Ich habe meine Mutter zur Rede gestellt. Doch die hat alles abgestritten." Bis zu jenem Abend, ein paar Monate später, als sie ihr alles erzählt. Es ist das Jahr 2000. In Hannover läuft die Expo, und im Radio singt "Die 3. Generation" ihr Lied "Leb!". Doch Sarafina will nicht leben. Weltweit gibt es 36 Millionen Infizierte.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man niemandem erzählen. Weil man sie selbst nicht versteht. Dass man HIV-positiv ist, irgendwann Aids bekommt. Und sterben wird. "Ich konnte nur daran denken, dass ich den Tod in mir trage", erinnert sich Sarafina. Und während ihre Freundinnen ihre Zukunft planen und davon träumen, Popstar oder DJ zu werden, plant Sarafina ihren Tod. "Ich wollte nicht auf den Tod warten. Ich wollte selbst bestimmen, wann ich sterbe." Bald.

Sie setzt die Medikamente ab, zieht sich immer mehr zurück. Sie rechnet damit, bald zu sterben. Doch nichts passiert. Zuerst ist sie enttäuscht, dann wütend. Schließlich kommt die Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Ärzte sich geirrt haben. Dass sie gesund ist, kein HIV hat. Denn sonst müsste doch etwas passieren. Denkt sie. Und dann passiert es. Ihr Immunsystem versagt. Sie bekommst Husten, spuckt Blut, kommt ins Krankenhaus. Lungenentzündung, sagen die Ärzte. Mir doch egal, sagt Sarafina.

Es ist das Jahr 2001. In Deutschland stehen Frauen erstmals alle Laufbahnen bei der Bundeswehr offen. In Amerika sterben mehr als 3000 Menschen bei den Terroranschlägen vom 11. September. Und in Hamburg stirbt ein Teil von Sarafina. Weltweit gibt es 40 Millionen Infizierte.

"Ich konnte nur daran denken, dass ich nie normal sein werde. Dass ich nie einen Jungen küssen werde, Sex habe, Kinder bekomme", sagt Sarafina. Sie rebelliert, setzt immer wieder ihre Medikamente ab, kommt immer wieder ins Krankenhaus. Jahrelang. Bis sie irgendwann aufgibt. Aufhört, dagegen anzukämpfen. Gegen die Behandlung, gegen die Krankheit. Was sich verändert hatte? "Nichts. Ich hatte mich geändert", sagt Sarafina. Und dann sagt sie noch etwas: "HIV bringt dich nicht um. Sondern die Angst." Und sie will keine Angst mehr haben. Sie will nicht an morgen denken, sondern leben. Jetzt.

Irgendwann in dieser Zeit lernt sie einen Jungen kennen - und verliebt sich. Für einen Moment ist die Angst wieder da. Wird er sie eklig finden, wenn er es erfährt? Oder wird er sie lieben, so wie sie ist? Er tut es! Sie akzeptieren, lieben, annehmen. Sogar Sex haben sie zusammen. Mit Kondom, aber ohne Angst.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man noch nicht mal seiner besten Freundin erzählen. Weil sie es nicht verstehen könnte. Aber man kann sie anderen Menschen erzählen. So wie Sarafina. "Ich möchte den Leuten klarmachen, dass Menschen mit HIV oder Aids ganz normal sind. Dass sie ein Recht darauf haben, akzeptiert zu werden. Dass sie sich und ihre Krankheit nicht verleugnen müssen." Das hat Sarafina in der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg gelernt, die HIV-betroffene Familien unterstützt. Wie viele es gibt, ist unklar. Aber allein 65 von HIV oder Aids betroffene Familien werden von der AJS betreut. Meistens sind die Eltern infiziert, kranke Kinder gibt es "nur" acht. Sarafina ist eine davon. Ihre Geschwister sind gesund. Sie wurden in Deutschland geboren und konnten vor einer Übertragung geschützt werden. Nicht einmal sie wissen von Sarafinas Krankheit.

"Es ist was es ist", sagt die Liebe in einem Gedicht von Erich Fried. "Es ist so, wie es ist", sagt Sarafina. Nächstes Jahr macht sie ihr Abi, danach will sie eine Ausbildung machen und heiraten. Ihr neuer Freund ist Student - und aufgeklärt. Er hat keine Angst vor Sarafinas Krankheit.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man noch nicht mal der besten Freundin erzählen. Weil sie es nicht verstehen würde. Noch nicht. Aber man kann hoffen, dass sich das eines Tages ändert.