Was arme Leute vor 100 Jahren aßen, sollte vor allem satt machen: Kohl, Fisch, Graupensuppe und Mangold. Heute entdecken wir schlichte Gerichte neu: als Delikatessen.

Ich habe einen ganz einfachen Geschmack. Ich bin immer mit dem Besten zufrieden. Oscar Wilde (1854-1900), irischer Dramatiker

Arme-Leute-Essen - wie bitte? Nein, das ist keine Geschmacklosigkeit: Das Arme-Leute-Essen aus den vergangenen 100 Jahren kommt heute tatsächlich wieder auf den Tisch. Aber jetzt als Delikatesse! Feinschmecker-Restaurants braten einfache Stinte, die handgroßen Gurkenfische aus den Flussmündungen. Drei-Sterne-Koch Dieter Müller (58) vom feinen Schlosshotel Lerbach bei Köln zaubert aus der gemeinen Steckrübe köstliche Gerichte. Nur die Preise sind heute im Vergleich zu früher gepfeffert.

Viele Gerichte sollten damals vor allem Hungerkiller sein. Zum Beispiel Arme Ritter: Weißbrotscheiben, in Milch getränkt, geröstet und in Zucker gewendet. Oder Graupensuppe, Kochfleisch mit Meerettich, alte Gemüsesorten wie Mangold. Süß oder salzig. Manche schieben da mit "Würg" den Teller weg. Aber Ältere, die Kriegs- und Nachkriegszeiten erlebt haben, schmecken bei den Rezepten die "Genüsse" vergangener Kinderjahre nach und wollen sie einfach nur mal wieder kosten.

Für Jüngere und ganz Junge sind zum Beispiel "uralte" Gemüse wie Mangold, Rote Bete, Bärlauch oder die früheren Resteessen wie Arme Ritter oder Quark mit geriebenem Pumpernickel der total neue Gaumenkitzel.

Geschmack hin, Geschmack her: Anfang 1900 waren Suppen aus Gersten- oder Weizenkörnern (Graupen), weißen Bohnen, Erbsen, Kartoffeln oder schlicht in Öl angeschwitztem Mehl für viele Familien wichtige Sattmacher. Wer konnte, baute selbst Gemüse an oder weckte Fleisch von hausgeschlachteten Schweinen und Ziegen ein. Die lange verschmähte Steckrübe, die als Viehfutter diente, wurde im Kriegswinter 1916/1917 sogar in "Ostpreußische Ananas" umgetauft, um den Appetit der Menschen anzuregen. Der Hunger trieb sie rein, denn 1916 war die Kartoffelernte schlecht ausgefallen.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg, noch vor dem Wirtschaftswunder, gab es viele Menschen, die sich nur einfaches Essen leisten konnten, vor allem kinderreiche Familien in den Städten. Da wurden aus halbgaren, panierten Kohlrabischeiben Schnitzel gebraten. Auf den Tisch kamen Lungenhaschee, Salzhering oder Schellfisch mit Kartoffeln. Fleisch gab es höchstens einmal pro Woche - sonntags. Mütter bekamen von ihren Kindern nach der Schule oft zu hören: "Auf meinem Pausenbrot war ja wieder nur Butter." Wobei "Butter" auch nur Margarine war.

Ein erster Silberstreif am Gourmet-Himmel war die Erfindung der "Currywurst" in Berlin. Am 4. September 1949 schnitt Herta Heuwer in ihrer armseligen Imbissbude im Bezirk Charlottenburg zum ersten Mal eine Bratwurst in feine Scheiben, fügte verschiedene Gewürze hinzu und patschte Ketchup drauf. Heute gehört Currywurst mit Pommes zu den Favoriten in deutschen Firmenkantinen.

In den 1950er-Jahren dann Gourmet-Erfindung Nummer zwei: "Toast Hawaii"! Damit brachte der vom Schauspieler zum Fernsehkoch mutierte Clemens Wilmenrod die Deutschen am 20. Februar 1953 auf den internationalen Geschmack. Sein Rezept ging um die Welt: Toastbrot mit Ananas, Schinken und Käse-Scheiblette im Ofen überbacken.

Inzwischen haben wir Deutschen so ziemlich alle Küchen dieser Welt durchgekostet: von Sushi bis Scampi, von Tofu bis Chili-Fisch. Ein Wunder, dass uns jetzt die Lust auf Steckrüben den Mund wässrig macht?

  • Um sich ein Kilo Schweinefleisch leisten zu können, musste man 1950 drei Stunden arbeiten - 1990 nur noch 34 Minuten. Die Verfasser der Tabelle, Annette und Herbert Kalcher, wählten das Jahr 1950 als Ausgangsbasis, weil es erst da vergleichbare Daten gab und sich das Leben nach dem Krieg normalisierte. Als Vergleichsjahr wurde 1990 gewählt (noch keine Statistik-Verwerfungen durch Wiedervereinigung und Euro-Umstellung).