Ortrud Grön erklärt, warum uns im Schlaf Bilder begleiten, und was sie uns sagen wollen. Schon in den 80er-Jahren begann sie, gemeinsam mit Patienten Träume aufzuarbeiten und widmete sich schließlich ganz der Forschung der Systematik der menschlichen Traumwelt.

Journal:

Die immer größer werdenden Existenzängste, die unsteten Zeiten, die anhaltende Abkehr vom Glauben - ist es heute wichtiger denn je, Träume wahrzunehmen?

Ortrud Grön:

Ja - es geht darum, uns den Sinn von Leben wieder bewusster werden zu lassen und zu begreifen, dass alle Schmerzen und Verunsicherungen dazu dienen, Täuschungen vom Leben aufzulösen. Denn Träume sind die Werkstatt des geistigen Lebens.

Gibt es eine Art übergreifendes Thema in den Träumen aller Menschen?

Hauptthemen von Träumen sind die Befreiungen aus Ängsten und deren Abwehrmechanismen sowie die Suche nach Befreiungen für neue schöpferische Kräfte.

Oft bleiben Träume ein Rätsel, sie beängstigen oder machen auf seltsame Weise glücklich - bräuchte jeder Mensch einfach nur einen Ratgeber auf dem Nachttisch, um seine Träume enträtseln zu können?

Träume sprechen in einer Gleichnissprache und fordern auf, ihre Bilder als Ausdruck der eigenen seelischen Prozesse verstehen zu lernen. Dafür hat jedes Bild einen sachlichen Inhalt, der Lebensvorgänge beschreibt und meist einen persönlichen Inhalt. Lexikonähnliche Ratgeber vereinfachen und interpretieren Inhalte oft in abenteuerlicher Weise.

Jeder Mensch träumt, aber nicht jeder kann sich daran erinnern. Kann man das Erinnern lernen?

Jeder, der mit einer Traumerinnerung aufwacht, sollte sie sogleich - auch mitten in der Nacht - aufschreiben, denn die meisten Träume verblassen sehr schnell. Es gibt keine überflüssigen Bilder, darum ist es wichtig, so viele Details wie möglich zu notieren. Es gibt aber auch Träume, die gar nicht erst in das Bewusstsein vordringen.

Gibt es allgemeingültige Symbole in Träumen?

Symbole nennen wir die Gleichnisse, die in den Kulturen der Menschen besondere Bedeutung gewonnen haben. Ich betrachte die ganze Natur und ihre lebendigen Prozesse als Gleichnisse unserer Menschwerdung.

Was bedeutet zum Beispiel das "Fliegen können"?

Wir fliegen im Traum, wenn wir dabei sind, unsere Sehnsucht nach Freiheit zu verwirklichen. Oft zeigen auch Vogelszenen, wie wir mit unserer Freiheit umgehen. Üben wir als Huhn erste Flugversuche, fliegen wir als Wildgans von Futterplatz zu Futterplatz oder sind wir als Schwalbe im pfeilschnellen Flug unterwegs.

Wenn man vom "Fallen" träumt, heißt es nicht einfach, dass man den Boden unter den Füßen verliert, oder?

Vom Fallen träumen wir, wenn wir Angst haben, den Halt zu verlieren, weil wir uns zum Beispiel nicht angenommen fühlen oder zu waghalsige Aktivitäten planen. Kurzum, in Situationen, die tief greifende Unsicherheiten auslösen.

Wieso träumt man überhaupt von seltenen Tieren, denen man nie begegnet ist?

Es sind meistens Tiere, die in alten Mythen der Welt eine zentrale Rolle

spielen: zum Beispiel Elefanten, die auf dem Weg durch den Dschungel des Lebens unseren Selbsterlösungsweg spiegeln, oder Nilpferde, die durch ihre Aggressivität unter Wasser beziehungsweise das Verwüsten von Feldern unsere noch chaotisch handelnde Lebensweise wiedergeben.

Und wie ist es, wenn in Träumen etwas auftaucht, das man nicht kennt - Orte, von denen man nie etwas gehört hat oder Begriffe, deren Bedeutung einem nicht klar ist?

Wenn ich mich zum Beispiel in einer steinigen Landschaft befinde, macht mich der Traum darauf aufmerksam, dass in mir zur Zeit nichts gedeiht und ich für neue Wachstumsprozesse sorgen sollte. Wenn ich im Traum eine unbekannte Stadt sehe, geht es darum, in welchem Zustand sie ist. Ist die Stadt einladend, habe ich die vielfältige Struktur meines Inneren liebevoll gestaltet. Ist die Stadt dunkel, baumlos und ungepflegt, verrät sie mir das Gegenteil. Unbekannte Begriffe sollte man auf jeden Fall im Lexikon nachlesen - es kann passieren, dass sich dann der ganze Traum über die Erklärung dieses Begriffs entschlüsselt.

Man schläft vor dem Fernseher ein und träumt von dem brennenden Haus aus dem Thriller, der zuletzt lief. Warum taucht vielleicht gerade das brennende Haus auf und nicht ein anderes Element? Träumt man in diesem Moment einfach den Thriller weiter?

Nein, der Traum nutzt nur diejenigen Bilder vom Alltag, die er braucht, um uns unser eigenes Verhalten zu spiegeln.

Warum haben manche Menschen immer wiederkehrende Träume?

Immer wiederkehrende Träume mahnen, sich endlich seinen Konflikt bewusst zu machen und nicht immer wieder zu verdrängen.

Dieses Zitat muss Ihnen aus der Seele sprechen: "Träume, die nicht gedeutet werden, sind wie Briefe, die nicht geöffnet wurden." (Talmud)

Wie viel Wahrheit steckt darin?

Es gibt für mich keine tiefere Liebe als den Traum, der mir, wann immer er zu mir kommt, hilft, mein Leben aus Ängsten und Widerständen zu befreien, damit ich meine schöpferischen Kräfte entwickeln kann. In jedem Menschen lebt ein göttliches Du. Träume sind Botschaften Gottes, die uns zum Zwiegespräch auffordern.

Sie selbst hatten eine schwierige Kindheit, haben große innere Konflikte austragen müssen, unter anderem durch die Verstrickung Ihres Vaters mit dem Nationalsozialismus. Inwieweit hat Ihnen die eigene Traumarbeit geholfen, das aufzuarbeiten?

Von mir wurde früh ausgeprägtes Pflichtbewusstsein verlangt - sowohl vom Vater als auch durch die nationalsozialistische Ideologie. Als Erwachsene träumte ich dazu unter anderem, dass als Kind mein Lebensbäumchen von Ameisen an der Wurzel zerstört wurde und umfiel. Ameisen leben vom kollektiven Fleiß. Ein anderer Traum erklärte: "Das hast Du nur ausgehalten, weil du dir die Wünsche verboten hast." Viele Träume lockten und mahnten mich dann, mein Leben leichter werden zu lassen. Als sich schließlich im Traum rote und blaue Tauben in die Luft schwangen, wusste ich, ich habe begriffen, wie beglückend das Leben werden kann.

Erinnern Sie sich an den Zeitpunkt, als Sie wussten, dass Sie vollkommen in der Lage sind, Träume anderer Menschen zu deuten? Gab es so ein Erlebnis?

Im Grunde war das und ist das immer noch ein langer Forschungsweg. Grundsätzlich "deute" ich nicht, sondern helfe dem Träumer, seine Bilder zu enträtseln. Ein Auto zum Beispiel dient dazu, sich selbst zu steuern, um ein Ziel zu erreichen. Gab es im Traum einen Unfall, muss sich der Träumer fragen, in wessen Auto saß ich? Zum Beispiel in dem meines Vaters aus alter Zeit? Dann sind verinnerlichte Erfahrungen aus dieser Zeit Ursache des Unfalls. So spiegelt der Unfall das aktuelle Verhalten des Träumers.

Sind Träume immer kleine Psychotherapien?

Ja, das kann man sagen! Das sehen alle so, die mit Träumen arbeiten. Siegmund Freud hat sich besonders der verdrängten Wünsche und der Abwehrmechanismen aus Ängsten in der Kindheit angenommen, C. G. Jung hat sich darüber hinaus intensiv mit kollektiven Bildern der Menschheit auseinandergesetzt. Ich selbst bin der Anregung des Psychotherapeuten und Zenmeisters Karlfried von Dürckheim gefolgt, der den ersten Traum mit mir erarbeitete. Damals war ich in einer Krisenzeit und träumte, dass meine geliebte Araberstute verlaust in einem schmuddeligen Stall stand. Ich war entsetzt und floh, hinter mir brannte der Stall ab. Graf von Dürckheim ließ mich erzählen, was Reiten für mich bedeutete. Reiten war für mich ein glückseliges Freiheitsgefühl, der Inbegriff lustvoller Vitalität. Daraufhin fragte er mich, wie es um meine eigene Vitalität bestellt sei. Und da hatte ich den Traum auch schon verstanden.

Wenn man anfängt, sich aufmerksam mit seinen Träumen zu beschäftigen, beinhaltet das nicht auch, sich intensiver mit seinem ganzen Leben zu beschäftigen?

Wenn man die Traumsprache versteht, ist der Forschergeist nicht mehr zu bremsen. Dann will man Schritt für Schritt durch die Zäune des Lebens schauen und wird durch die Träume aufmerksam, welche Lebensfelder noch zu bestellen sind.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass Menschen, die man am Träumen hindert, nach einer Zeit krank werden.

Das ist nicht mein Themenfeld - dafür sind andere Forscher zuständig. Ich beschäftige mich ausschließlich mit dem Inhalt der Träume und dem, was sie dem Menschen zu sagen haben.

Kekulé hat im Traum die Formel für den Benzolring empfangen. Chemie-Nobelpreisträger Dimitri Mendelejew kam im Traum auf die Idee des Periodensystems - wie können Träume so eine aufklärende Wirkung haben?

Dabei handelt es sich ja nicht um seelische Befindlichkeiten. Wenn wir uns intensiv mit der Klärung einer Frage beschäftigen, kommt es immer wieder vor, dass der Traum den letzten Schritt sichtbar macht. Das ist bei diesen Forschern der Fall gewesen. Ich selbst habe zu psychosomatischen Problemen von Patienten weiterführende Antworten bekommen. So hörte ich im Traum zum Beispiel: "Der Herzpatient ist derjenige, der den intimen Wünschen keine Chance geben kann, weil er erst eine Pflicht tun muss. Ihm gelingt es, sich dem Konflikt der Aufgabe zu stellen, aber er kann seine persönlichen Konflikte nicht lösen, weil es ihm an der Beziehung zu sich selbst fehlt." Dieser Traum wurde für mich zum Wegweiser im Umgang mit Herzpatienten.

Wie würde eine Welt aussehen, in der alle Menschen sich ernsthaft mit ihren Träumen auseinandersetzen würden?

Die Menschen würden die Lebendigkeit in sich selbst und in den anderen lieben lernen und dazu die eigene Not und die der anderen mit neuer Aufmerksamkeit begleiten. Unser aller Gefühle und Gedanken würden eine kosmische Ordnung wahrnehmen. Ein neues Vertrauen könnte entstehen durch die Wahrnehmung, dass wir in Gesetze eingebunden sind, die uns das Glücklichwerden lehren.

Ortrud Grön (85) ist Psychotherapeutin und Gründerin der Lauterbacher Mühle, einer Herz- und Kreislaufklinik an den Osterseen in Bayern. Schon in den 80er-Jahren begann sie, gemeinsam mit Patienten Träume aufzuarbeiten und widmete sich schließlich ganz der Erforschung der Systematik der menschlichen Traumwelt.

Das neue Buch von Ortrud Grön "Ich habe einen Traum - was hat er zu bedeuten?" Ludwig, 2009