Patriarch oder Frauenbefreier? Freuds Theorie von der Weiblichkeit prägte die Psychoanalyse und geriet später durch den Feminismus heftig in die Kritik. Sein tatsächliches Verhalten gegenüber Frauen erscheint heute widersprüchlich und komplex. Die Hamburger Psychoanalytikerin Dr. Benigna Gerisch hat sich über das Thema "Suizidalität bei Frauen" habilitiert. Sie arbeitet im Therapiezentrum für Suizidgefährdete am UKE.

JOURNAL: Frau Gerisch, war Freud ein kleiner Macho?

BENIGNA GERISCH: Bei jeder historischen Figur und erst recht bei Freud ist es notwendig, die Dinge differenzierter zu betrachten. Es fällt auf, daß Freud sich mit sehr starken, souveränen und im Denken eigenwilligen Frauen umgeben hat: Marie Bonaparte, Lou Andre Salome, Helene Deutsch. Sich von solchen Frauen faszinieren zu lassen ist für einen Wissenschaftler des beginnenden 20. Jahrhunderts sehr ungewöhnlich.

JOURNAL: Freud schurigelte seine Schwestern, bestimmte über seine Ehefrau . . .

GERISCH: Ich habe den Eindruck, daß er sich nicht nur gegenüber Frauen so verhalten hat, sondern auch gegenüber Männern. Er wollte, daß sich seine Psychoanalyse verbreitete, war aber eifersüchtig darauf bedacht, daß sie nicht aus seiner Kontrolle geriet. Er hat sich ja mit den meisten Kollegen zerstritten. Daß er seine eigene Tochter Anna auf die Couch legte, ist aus heutiger Sicht allerdings absurd: Wie sollte sie sich denn jemals von dem Übervater lösen können?

JOURNAL: Freud prägte den Begriff "Penisneid": Die Frau habe, da ohne Kastrationsangst, nur ein schwaches Über-Ich. Deswegen sei sie eifersüchtig, kindlich und passiv. Gilt das heute noch in der Psychoanalyse?

GERISCH: Nein. In seiner Theorie zur Weiblichkeit war Freud sicherlich ein Mann seiner Zeit, war in vielerlei Hinsicht konservativ, auch als privater Mensch. Zugleich war er als Denker und Wissenschaftler revolutionär. Er drängte darauf, Frauen in die "Psychoanalytische Vereinigung" aufzunehmen; bis heute ist der Frauenanteil ungewöhnlich hoch.

JOURNAL: Welche seiner Lehren sieht man heute anders?

GERISCH: Freud ging davon aus, die männliche und die weibliche Entwicklung verliefen parallel - so lange, bis das Mädchen den Geschlechtsunterschied entdecke und sich als kastriert erlebe. Heute wissen wir durch fortgesetzte Forschung, daß die Entwicklung von Jungen und Mädchen von Beginn an unterschiedlich verläuft. Kleine Mädchen sind sehr früh mit infantilen Kinderwunsch-Phantasien beschäftigt. Der Penisneid, wenn er denn auftaucht, ist immer sekundär: wenn etwa ein Mädchen merkt, daß seine Brüder in der Familie ständig bevorzugt werden.

JOURNAL: Freud lebte mit zwei Frauen zusammen: Ehefrau Martha und Schwägerin Minna. Ist das nicht komisch?

GERISCH: Martha zog die Kinder groß, führte gemeinsam mit ihrer Schwester Minna den Haushalt. Seiner Ehefrau wollte Freud vieles nicht zumuten, nach dem letzten Kind lag auch die eheliche Sexualität brach. Minna zeigte mehr Interesse an seiner wissenschaftlichen Arbeit; ein Verhältnis, wie oft geschrieben, hatten die beiden aber wohl nicht.

JOURNAL: Wieso hatte ausgerechnet Freud, der Sexualität als Grundlage für alles sah, in der zweiten Lebenshälfte keinen Sex mehr? Hat die Analyse bei ihm nicht funktioniert?

GERISCH: Freud selbst kam nie in den Genuß einer langen Analyse. Und die Selbsterforschung als solche ist zwar der beste Weg zur Veränderung, aber nicht der garantierte. Auch wissen wir, daß der Schuster die schlechtesten Schuhe trägt und daß sogar Ärzte rauchen. Deswegen ist nicht die Lehre falsch.

JOURNAL: Was gefällt Ihnen an Freud?

GERISCH: Mich berühren immer wieder das Ausmaß an Askese und seine beeindruckende Nachdenklichkeit. Anders als C. G. Jung war Freud kein Lebemann. Er empfing zwölf Stunden am Tag Patienten, dann aß er mit der Familie, nachts schrieb er. Bei allem Narzißmus, den er fraglos besaß, war sein Charisma das Scharfsinnige, das Leise, das Stille.

JOURNAL: Was kann die Psychoanalyse heute für Frauen tun, die zwischen Kind und Karriere zerrissen sind?

GERISCH: Die moderne Frau steht unter einer gnadenlosen "Superwoman"-Knute. Die Frauenmagazine suggerieren uns, daß wir alles selbstverständlich hinbekommen und dabei noch gut aussehen könnten. Der psychische Konflikt - zu unterscheiden von den strukturellen Mängeln hierzulande - kommt als Thema gar nicht mehr vor. Wenn ich meinen Patientinnen zuhöre, nehme ich vor allem ihr Ausmaß an Schuldgefühlen wahr: "Ich bin keine gute Mutter, ich leiste im Beruf nicht genug". Eine Analyse schafft erst mal einen Ort, an dem die Frau wieder Gehör findet. Langfristig kann sie vielleicht dazu führen, daß sich das Über-Ich mildert; daß die Frau es aushalten kann, nicht perfekt zu sein - aber gut genug.

Am 1. Juni, 19 Uhr spricht Benigna Gerisch über "Freud und die Frauen". Altonaer Museum, Eintritt 5 Euro .