Das Unbewußte prägt unser Empfinden und Verhalten - diese Erkenntnis des Wiener Arztes Sigmund Freud glich einem Quantensprung ins 20. Jahrhundert. Was die Psychoanalyse aus dem tiefen See des Unbewußten ans Licht zieht, kann so banal wie verstörend sein. Heute gehören Begriffe aus Freuds Lehren längst zur Populärkultur.

Rück ein bißchen, Wolferl! Noch ein großer Österreicher muß in diesem Jahr gewürdigt werden. Sigmund Freud, der vor 150 Jahren in Freiberg/Mähren geboren wurde, hat ein OEuvre hinterlassen, das dem des Götterlieblings Mozart an Umfang und Vielschichtigkeit kaum nachsteht.

Freuds anhaltende Wirkung auf Gesellschaft und Kultur kann kaum überschätzt werden. Das haben selbst jene Kritiker und Medien begriffen, die sich zum Jubiläum des 150. Geburtstages in die Schar der Huldiger einreihen, nachdem sie sich jahrzehntelang im Freud-Bashing hervorgetan haben. Um nur zwei zu nennen: "Spiegel" und "Zeit" konnten sich in regelmäßigen Abständen nicht genug mokieren über die Abstrusität und Unwissenschaftlichkeit der psychoanalytischen Lehre. Nun berichten sie beflissen, wie die moderne Hirnforschung Freudsche Annahmen angeblich und tatsächlich bestätigt.

Natürlich sind und bleiben viele Ideen und Begriffe aus Freuds Lehre - zumal die "übersexualisierten" wie etwa Ödipuskomplex, Penisneid oder Kastrationsangst - bis heute umstritten. Die Existenz des Todestriebes wird auch von vielen Freudianern bezweifelt.

Aber selbst wenn man die unbewiesenen, oft nur aus der Entstehungszeit begreifbaren Vorstellungen beiseite läßt, so bleibt doch ein stupendes Theoriegebäude übrig, ein blendend geschriebenes, zu Selbstreflexion und Forschung immer neu anregendes Werk. Freud hat nicht nur die Psychotherapie revolutioniert, er hat Philosophie, Pädagogik, Literatur, Film und andere Künste beeinflußt und selbst das Denken in Politik und Gesellschaftstheorie verändert. Wir sprechen heute alle freud.

Wie andere Jahrhundertfiguren wird auch Freud für unterschiedlichste Zwecke vereinnahmt, wird persifliert und karikiert. Das Foto, das ihn mit Bart, Brille und Zigarre zeigt, ist inzwischen eine Ikone, vergleichbar nur mit dem Zunge herausstreckenden Einstein. Salvador Dalis schwersymbolische Malerei oder Woody Allens Neurotiker-Filme sind ohne die Psychoanalyse nicht denkbar; Loriot's Ödipussi bringt selbst Leute zum Lachen, die nie eine Zeile Freud gelesen haben (siehe Seite 2), aber auch sie verstehen sofort: Die überstarke Mutterbindung steht für eine unerledigte Lebensaufgabe.

Viele von Freuds Vorstellungen über die Seele, ihren "Apparat" und seine Mechanismen (Projektion, Verdrängung usw.) sind auch Menschen geläufig, die sich nicht professionell mit Psychoanalyse befassen. Wenn wir uns das bewußt machen, sind wir schon mittendrin in Freuds Denksystem: Bewußt machen ist die zentrale Freudsche Technik.

Freuds Denken kreiste um die Möglichkeiten, wie man dem Unbewußten und dem Verdrängten auf die Spur kommen kann - also den verborgenen, unbegriffenen Mächten in uns, die uns mehr beeinflussen und steuern, als wir zugeben wollen und ahnen. "Wir sind", so lautet sein wohl bekanntester Satz, "nicht Herr im eigenen Haus": Starke Triebe, vor allem sexuelle und aggressive, drängen uns immer wieder dazu, Dinge zu tun, derer wir uns "normalerweise" schämen müßten oder die uns kompromittieren. Hier einige "harmlose" Beispiele aus dem ganz normalen Alltag:

Immer wieder unterlaufen uns sogenannte Fehlleistungen, deren bekannteste der Freudsche Versprecher ist. Das Unbewußte spielt uns während des Sprechens immer wieder Streiche: Wenn wir etwa einem intriganten Kollegen sagen, bei der letzten Konferenz sei bei ihm doch "einiges zum Vorschwein gekommen". Oder wenn im Bundestag eine eventuelle CDU-FDP-Koalition als "Bündnis von Schwarz-Geld" bezeichnet wird.

Der Freudsche Versprecher offenbart genau das, was wir gerne verborgen hätten. Was in unserem Kopf an Vorurteilen, Aggressionen, Ressentiments, Wünschen und Werturteilen herumspukt, dürfen wir normalerweise nicht ausleben oder aussprechen, weil es sich nicht mit Moral, Konvention oder den sozialen Spielregeln verträgt. Aber das Unsagbare, Unsägliche rutscht uns doch heraus. Vor Versprechern sind selbst Freudianer nicht gefeit, von denen einer es einmal weit von sich wies, "an der Fronleichnamsprojektion" teilzunehmen.

Auch das Vergessen kann eine solche Fehlleistung sein: Wenn wir ein Bewerbungsschreiben ohne Briefmarke in den Kasten werfen - wollen wir die neue Stelle wirklich haben? Und wenn wir die Eintrittskarten für die Tannhäuseraufführung so verlegen, daß wir sie einfach nicht wiederfinden, kann uns nicht allzu viel an diesem Opernabend gelegen haben.

Bleiben wir noch einen Moment beim Alltäglichen: Warum lachen wir über einen Witz ? Freud erklärt uns in seiner Schrift "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten", was beim Ablachen passiert. Wenn etwa Harald Schmidt einen Polenwitz reißt, dürfen wir auf eine gesellschaftlich akzeptierte, harmlose und erlaubte Weise einem aggressiven, manchmal sogar sadistischen Impuls freien Lauf lassen. Das Verpönte kommt im Witz zur Sprache, und wir können lachend Spannungen abbauen. Die jeweils Verlachten sind häufig beneidet, gehaßt oder verachtet oder Autoritätspersonen. Indem wir über sie lachen, entschädigen wir uns einen lustvollen Augenblick lang dafür, daß wir unsere wahren Gefühle oder Gedanken nicht offen zeigen dürfen. Das erklärt auch, warum sexuelle Anzüglichkeiten und Zoten so beliebt sind.

Das bekannteste Werk Freuds ist die 1900 veröffentlichte "Traumdeutung". Seit Urzeiten versuchen Menschen, den oft bizarren, unverständlichen "Filmen im Kopf" einen Sinn abzugewinnen. Freud sah in den Träumen und ihrer Entschlüsselung den Königsweg zum Unbewußten. Seine wichtigste Erkenntnis war: Ein Traum ist in der Regel eine gut getarnte Wunscherfüllung.

Im Traum verbindet sich ein Gedankengang, der uns vielleicht vor dem Einschlafen beschäftigt hat (sogenannte "Tagesreste"), mit einem unbewußten Wunsch oder Motiv zu einer hochverschlüsselten, stark verdichteten und oft absurden Episode. Ihr Inhalt bleibt uns meist rätselhaft - aus gutem Grund: Sie soll unterdrückte Triebwünsche, verdrängte Rachegelüste oder unakzeptable Aggressionen maskieren. Die unbewußten Wünsche und Impulse sollen vor uns selbst geheim bleiben. Deshalb tarnen sie sich, indem sie sich mit neutralen Objekten oder unverfänglichen Gedanken verbinden, die erscheinen dann als Symbole.

Wer seine Träume verstehen will, muß also ihre raffinierte Symbolsprache entschlüsseln. Über die ist in der Traumdeutung viel gespottet worden; denn in nahezu allen länglichen Gegenständen wie Waffen, Türmen oder auch Zigarren hat Freud ein Phallussymbol erkannt, in Gefäßen, Höhlen oder Taschen Symbole der Vagina.

Der psychoanalytisch Vorbelastete kann bald auch im Wachzustand überall solche Symbole entdecken oder sogar bewußt einsetzen. Wenn Alfred Hitchcock in seinen Filmen einen Zug in den Tunnel fahren läßt, bedeutet dies - na, Sie kommen selbst drauf. In der psychoanalytischen Traumarbeit ist die Deutung der Symbole jedoch eine detektivische, komplizierte Angelegenheit. Freud selbst warnte vor unkritischem Deutungseifer, als er bemerkte: "Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre."

Das psychoanalytische Denken gleicht - nicht nur bei der Traumentschlüsselung - der Arbeit eines Detektivs. Arthur Conan Doyle war ein Zeitgenosse Freuds, und die Arbeitsweise seines Sherlock Holmes ähnelte der Freuds verblüffend: Es geht darum, all die winzigen Zeichen und übersehenen Spuren zu entdecken und richtig zu deuten, die auf die Spur des Verbrechens (bei Freud: des Verdrängten und der Traumata) führen. Es geht in beiden Fällen darum, eine verborgene Wahrheit hinter oft raffinierten Verkleidungen und Masken zu erkennen.

Die Freudsche Forderung, hinter die Manifestationen des menschlichen Handelns, Redens und Träumens zu schauen, ist wohl sein wichtigstes Erbe. Man hat diese Haltung auch als eine des permanenten Verdachts bezeichnet. Aber Freud hat in seinem Mammutwerk auf tausend Arten und sehr überzeugend gezeigt: Meistens sind die Dinge tatsächlich nicht so, wie sie scheinen. Skepsis ist nicht nur berechtigt, sie kann uns helfen, uns selbst besser zu verstehen und uns von der archaischen Macht der Triebe, des Verdrängten und Unbewußten zu befreien.

"Wo Es war, soll Ich werden": Das ist für Freud die Aufgabe des Menschen - sich selbst zu kultivieren und zu zivilisieren. Das Es steht für das Lustprinzip, die "Unterwelt" der Triebe und Impulse in jedem von uns. Es stößt immer wieder auf das Realitätsprinzip - die Tatsachen des Lebens, das eben kein Wunschkonzert ist. Das Es kann nur gezähmt werden durch ein hochentwickeltes, starkes Ich: Wir müssen lernen, Befriedigungen aufzuschieben und Frustrationen zu ertragen. Das Ich baut bei dieser Aufgabe auf den Verstand, die Vernunft, den Willen. Die "leise Stimme der Vernunft", das war Freuds Hoffnung, wird sich auf lange Sicht Gehör verschaffen.

Das ist um so nötiger, als wir auch in unserer hochentwickelten, komplex strukturierten Zivilisation Triebwesen geblieben sind. Uns machen zwar heute weniger die sexuellen Triebunterdrük- kungen und Verdrängungen zu schaffen, die Freuds Zeitgenossen so bedrückten. Im 21. Jahrhundert sind latente und offene Aggressionen das gefährlichste Problem, ebenso ein hemmungsloser Konsumismus und grassierende Sinnkrisen.

Heute müssen destruktive Triebe und Impulse immer wieder gebändigt werden, wenn wir halbwegs friedlich zusammenleben wollen. Das geht beim Einzelnen nicht ohne Verzicht und innere Kämpfe ab. Diese Situation empfinden wir als das "Unbehagen in der Kultur": großenteils gegen unsere Natur leben zu müssen. Aber der Skeptiker Freud wußte: Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Projekt der Triebkontrolle und der Selbstaufklärung voranzutreiben. Nur so gelingt uns auch ein überlegterer, zivilisierterer Umgang mit anderen Menschen.