Kriminalroman: Dem britischen Autor David Peace ist mit “1974“ ein starkes Debüt gelungen. Die Story um Mädchenmorde in der Provinz offenbart ein korruptes Gemeinwesen.

Es sind nur wenige Stunden, in denen Edward Dunford seinen Traumjob genießen kann. Er ist Gerichtsreporter bei einem Provinzblatt im Norden Englands, es ist sein erster Arbeitstag. Elf Tage später soll der junge Edward Dunford ein anderer Mensch sein. Ein Verhöhnter, ein Geschlagener, ein Getriebener, ein Gequälter, einer, der sehen wollte, wie es ausschaut in der Hölle. Und so zum Täter wurde.

Die Geschichte, die der britische Autor David Peace in seinem Kriminalroman-Debüt "1974" erzählt, ist so oder so ähnlich schon häufiger aufgeschrieben worden. Was diesen Roman jedoch aus der Masse der Veröffentlichungen weit heraushebt, ist, wie Peace, Jahrgang 1967, diese Geschichte erzählt.

Die Grafschaft Yorkshire im Jahre 1974. Drei Mädchen, zwischen acht und zehn Jahre alt, sind in letzter Zeit als vermißt gemeldet worden. Dann wird die junge Clare gefunden, ermordet. Und Gerichtsreporter Edward Dunford beginnt zu recherchieren, auch die Fälle der beiden anderen Mädchen. Er ahnt, daß es Zusammenhänge geben muß.

Peace beschreibt punktgenau den Alltag des Journalisten - die Konkurrenz in der Redaktion, die familiäre Bedrängnis nach dem Tod des Vaters, seine leicht verspielte Liebe, seine Abstürze, sein unbedingtes Oben-bleiben-Wollen. Die Sprache, derer sich Peace bedient, ist wie ein Hammerschlag; kurz die Sätze, kein Wort zu wenig, keines zu viel. Sätze, die wie gehetzt wirken mit dem Gestus des Gepeinigtseins, stilistisch in der Tradition eines James Ellroy stehend.

Und natürlich - das erfordert die Logik der Geschichte und des Genres - steckt hinter den Mädchenmorden weit mehr als die grausame Tat eines Wahnsinnigen. Ökonomische Interessen und psychopathologische Disposition gehen eine unheilvolle Allianz ein. Es ist desolat, dieses England in jenem Jahr 1974, das David Peace schildert, ein verkommenes provinzielles Gemeinwesen, hinter dessen maroder sozialer Struktur sich ein Konglomerat aus Macht, Gier und Korruption verbirgt. Dessen Personal setzt sich aus Polizei, Politik und Wirtschaft zusammen. Gefangen in diesem Netz, kann ein junger Gerichtsreporter, zum Spielball der Interessen geworden, nur verzweifelt um sich schlagen - und sich hoffnungslos darin verfangen.

Dem Autor, der mit seiner Familie heute in Tokio lebt, geht es um Existentielles, um grundlegende Fragen des menschlichen Miteinanders. Sein Held, der zum Sympathieträger nur wenig taugt, ist ihm dabei jene Folie, auf der er nach Antworten sucht. Als Dunford mit seiner Suche beginnt, ist er unschuldig. Doch anders als Alfred Hitchcocks schuldlos Verstrickte begibt er sich wissentlich hinein in eben jene Verstrickungen, getrieben von dem obsessiven Willen nach Wahrheit, der die journalistische Neugier schnell hinter sich läßt. Und er ahnt nicht, welches Inferno er während seines Höllenritts entfacht, das auch ihn am Ende zum Schuldigen machen soll. Ohne Schuld sind bei Peace lediglich die Opfer. Die Hölle sind eben nicht nur immer die anderen. Die erzählerische Verve, mit der Peace seine Geschichte dabei vorantreibt, ist von schonungsloser Brillanz.

David Peace' Kriminalroman ist eine große Klage über den Mangel an Menschlichkeit und über Verzweiflung. Die Melodie, die er anstimmt, ist manchmal schwer zu ertragen, denn sie klingt wie ein Schrei. Doch wer hören kann, der höre. Auch wenn es ein schmerzhaftes Lehrstück ist über moralischen Verfall und psychosoziales Elend.

"1974", der erste Teil eines Quartetts über das England der siebziger und frühen achtziger Jahre, ist ein dunkler, ein großer und gewalttätiger Gesellschaftsroman. Man atmet auf nach dem Lesen - doch von Erleichterung keine Spur. Es wird weitergehen.

David Peace: 1974. Deutsch von Peter Torberg, Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 384 S.; 22 Euro.