Rettungsanker, Mutmacher, Liebesbote: In “Mein Song“ erzählen 100 Prominente, wie Lieder des Rock und Pop sie berührten und veränderten. Ein charmantes Buch, das Emotionen und Erinnerungen weckt.

Hoffentlich liest die Polizei nicht mit! Elke Heidenreich verrät ein Geheimnis. Als sie "vor lauter Enttäuschung und Kummer fast schon von den Füßen aufwärts bis übers Herz zu Stein geworden war", verriegelte sie nachts die Türen ihres Autos und schob eine Kassette ein. Bruce Springsteen erhob seine sperrige Stimme, füllte den Raum: "Point blank", leerer Punkt. Nichts gilt mehr, alles muß sich ändern, oder es wird nicht weitergehen. "Da heulte ich schon."

Das gibt es, daß die Botschaft eines Liedes mit ungeheurer Wucht ins Herz trifft, als Rettungsanker vor dem Untergang in Liebeskummer und Lebensangst. "Und Bruce sang weiter und kannte mich und mein ganzes Leben." Elke Heidenreich schob den Bleifuß vor und raste zwei Stunden zwischen Köln und Bonn auf der Autobahn hin und her. "Point blank nonstop, und ich schrie und heulte mir mein Elend aus dem Leib." Euphorisiert bis in die letzte Gemütskammer fuhr sie womöglich Schlangenlinien wie Alkoholisierte. Es ging aber alles gut. "Am nächsten Tag hatte ich wieder glänzende Augen und konnte weitermachen. Und das hat mit ihrem Singen nicht die Loreley getan, sondern mit seinem Nuscheln Bruce Springsteen."

"Texte zum Soundtrack des Lebens" hat der Nürnberger Journalist Steffen Radlmaier (50) gesammelt. Eine pfiffige Idee. Sehr wahrscheinlich entdeckt der Leser sich in dem einen oder anderen Bekenntnis wieder, weil er Zeitzeuge war. Und wenn nicht, so kennt er, je nach Geburtsjahr, die Zeit, in der bestimmte Songs aufwühlten, umtrieben, Mut gaben. Manchmal funktioniert das auch generationenübergreifend.

So erzählt die Jungschriftstellerin Alexa Hennig von Lange, wie 1978, sie war fünf, ihre Mutter sagte: "Du schenkst Papa zum Geburtstag eine Beatles-Platte." Allerdings hatte sie noch nie etwas von den "Bietels" gehört und hätte lieber etwas gebastelt. Sie schenkte "Help!", aber als die Platte aufgelegt wurde, war sie es, die "von dieser Musik wie angefixt" war. Sie wälzte sich auf dem Wohnzimmerteppich. "Die singenden Männer waren meine Freunde. Sanftheit, Verletzlichkeit, Reinheit schwangen in ihren Stimmen mit . . . Es war ein Streicheln über mein Innerstes, daß ich mich winden mußte."

"Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an", lautet Radlmaiers These. Der Worte gibt es täglich viel, aber oft bringt nur ein Lied weiter. Vor allem bei dramatischen Erfahrungen. "Jeder Schmerz hat seinen Rhythmus, jeder Seufzer einen Takt", wird die Formation Virginia Jetzt! zitiert. Das Buch ist keine Auflistung der besten Songs des Pop, sondern reiht höchst persönliche Geschichten aneinander, wie man sie in solcher Ballung noch nie las. Alle Befragten gaben eigens für dieses Buch Auskunft. Manche hat die Musik auf einen neuen Lebensweg gebracht, anderen die Berufswahl vorgegeben, einem gar das Leben gerettet. Es geht um die "Magie der Musik". Und fast nie ist es Klassik, die als Tonspur ein Leben unterlegt, sondern der Zeitgeist: Pop.

Udo Lindenberg hörte 1954 im elterlichen Radio Paul Anka und wollte von Stund an "Rockstar werden". Auch für Annet Louisan ("Ich will doch nur spielen") war 40 Jahre später das Radio die Offenbarung: Als Kindergartenkind hörte sie Elvis Presleys "In the Ghetto". "Oh Mann, das ging durch und durch." Weil in der DDR Westfunk nicht korrekt war, lauschte sie unter einer Wolldecke. "Wenn ich heute Elvis höre, spüre ich immer noch die Wolldecke über meinem Gesicht."

Wolfgang Niedecken wälzte "Like a Rolling Stone" von Bob Dylan um - das versteht jeder sofort, der die Siebziger bewußt erlebt hat. Bei Wim Wenders war es Lou Reeds "Some Kinda Love", "mit dem ich einschlief und aufwachte", den Intellektuellen Roger Willemsen streckte das hart am Kitsch dümpelnde "Nothing Compares 2 U" von Sinead O'Connor nieder, und dem Schriftsteller Georg Klein verdrehte "Müssen nur wollen" von der Gruppe "Wir sind Helden" den Kopf. Er fand die CD im Kinderzimmer seines Nachwuchses.

Bemerkenswerte Lebenslaufveränderungsangaben, Einblicke in Gefühlswelten bietet Steffen Radlmaiers Song-Book. Und es bringt auch die eigene Erinnerung in Gang.

Steffen Radlmaier: Mein Song. Texte zum Soundtrack des Lebens. ars vivendi, 387 Seiten; 17,90 Euro.