Muß das Genie im 200. Todesjahr vom Sockel geholt werden? Oder können wir es neu entdecken? “Schiller ist ansteckend“, sagt der Autor Rüdiger Safranski im Interview. Eine Umfrage, ein Dichter-Quiz, Schillers häusliches Leben.

JOURNAL: Ist Schiller ein Klassiker, der wiederbelebt werden mußte?

RÜDIGER SAFRANSKI: Auf jeden Fall. Weil er ein marmornes Denkmal geworden ist, ein Pflichtprogramm in den Schulen, so daß er von einer gewissen Langeweile umgeben ist und ihm viel Schülerschweiß anzuhaften scheint. Gerade deswegen war es ganz wichtig, einen neuen Blick zu riskieren.

JOURNAL: Schiller ist ein Forschungsgegenstand von Dauer. Wie nähert man sich einem solchen Block wie dem Werk und dem Massiv an Gelehrsamkeit, das sich über zwei Jahrhunderte darüber gebildet hat?

SAFRANSKI: Man muß einen unmittelbaren Zugang zu Schiller finden. Man nimmt selbstverständlich vieles zur Kenntnis, was schon erforscht worden ist. Es ist großartig, was die Philologie da geleistet hat. Jeder Zettel ist gesichtet, die Editionslage ist perfekt. Ich wollte vor allem über die Wunderjahre des deutschen Geistes schreiben mit Schiller als Hauptfigur. Aber Schiller ist so ansteckend, daß er mächtig nach vorn gekommen ist und es umgekehrt ein Buch über ihn mit dem Panorama der Zeit um 1800 geworden ist.

JOURNAL: Was ist für Sie selbst die wichtigste Erkenntnis über Schiller?

SAFRANSKI: Ich würde herausstellen, daß er ein sehr zeitgemäßer Philosoph und Autor der Freiheit ist. Freiheit wird heute oft als Schlagwort benützt, wir sind Konsumenten der Freiheit, sie ist für uns etwas ganz Gewöhnliches. Aber bei Schiller kann man noch mal lernen, was für ein wunderbarer ganzheitlicher Ansatz es ist, den Menschen und seine Tätigkeiten zu begreifen.

JOURNAL: Wo wird das Genie Schillers wirksam? Besonders beeindruckt hat mich Ihre Beschreibung seiner Hellsichtigkeit, etwa im "Don Carlos", in dem er schon vor der Französischen Revolution erkennt, wie Terror im Namen der Freiheit entstehen kann.

SAFRANSKI: Genau. Einerseits ist es Schillers Hellsichtigkeit, andererseits veranschlage ich sehr hoch, daß er einen ganz neuen Akzent in die Anthropologie gebracht hat, indem er den homo ludens , den Menschen als Spielenden entdeckt hat als das Betriebsgeheimnis unserer Zivilisation. Spiel ist in der Zivilisation der Versuch, möglichst viele Ernstfälle in Rituale und Ersatzhandlungen zu überführen. Eine Erkenntnis, die Schiller im Kern schon anvisiert hat. Aber wir dürfen über seine vielen denkerischen Leistungen - Schiller war zu seiner Zeit als veritabler, bedeutender Philosoph anerkannt - nicht vergessen, daß er auch großes Theater gemacht hat. So wie Shakespeares Theaterwelt, die unablässig aktuell bleibt, so gibt es auch von Schiller einige Stücke, die großes Theater in dem Sinne sind, daß die Bretter die Welt bedeuten. Insbesondere möchte ich den "Wallenstein" herausstellen - das ist mein Lieblingsstück.

JOURNAL: Wie sind Ihre Schiller-Theatererfahrungen als Zuschauer?

SAFRANSKI: Sehr schlecht. Es ist das leidige Regietheater, das ihm nicht gut gesonnen ist und Mätzchen machen muß. Doch Schiller ist ein perfekter Theaterautor, man müßte ihn einfach nur auf die Bühne bringen und nicht als Collage benutzen. Ich hoffe, daß sich das in diesem Jahr auch ein bißchen ändert.

JOURNAL: Haben Sie akzeptable Inszenierungen gesehen?

SAFRANSKI: Ja. Der Peymann hat 1990 in Wien eine wunderbare Inszenierung von "Wilhelm Tell" gemacht.

JOURNAL: Hamburgs "Räuber" auf dem Mars werden Sie vermutlich nicht gesehen haben?

SAFRANSKI: Aber davon gehört.

JOURNAL: Mit Befremden?

SAFRANSKI: Die soll ich wahrscheinlich nicht besuchen?

JOURNAL: Die stehen nicht mehr auf dem Spielplan. Kommen wir zum Historiker Schiller, dessen Werk heute nur wenig gewürdigt wird. Brachte er neben dem akademischen Handwerk mit den Fähigkeiten und der Hellsichtigkeit des Künstlers sozusagen einen Mehrwert in seine Interpretationen ein?

SAFRANSKI: Ja. Besonders gilt das für die erste große Schrift "Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung", wo er auch sehr solide Quellenarbeit geleistet hat - das war eine richtige Fleiß- und Schweißarbeit. Aber Schiller hat darüber hinaus zum ersten Mal in der deutschen Sprache Geschichtsschreibung zur großen Literatur gemacht in der Tradition der römischen Historiker. Es ist große Prosa, wenn man Schillers Porträt von Philipp liest im "Abfall der Niederlande". Da merkt man, daß deutsche Prosa in ihren besten Momenten fast schon an diese lateinische Eleganz herankommt. Aber es gibt noch einen zweiten wichtigen Aspekt beim Historiker Schiller, nämlich seine Redlichkeit. Er beginnt im "Abfall der Niederlande" mit dem Pathos, wo Gut und Böse wunderbar verteilt ist. Und in seiner klaren Prosa macht er im Fortgang klar, daß die Geschichte selbst unklar, eine Gemengelage ist und daß die komfortablen Einteilungen mit Gut und Böse eher unsere Bedürfnisse befriedigen und ein Konstrukt sind, als daß sie sachgerecht wären.

JOURNAL: Ausführlich beschäftigen Sie sich mit dem Verhältnis von Goethe und Schiller. Trotz anfänglicher Rivalitäten fanden zwei verschiedene Genies zueinander. Sehen Sie einen Zusammenklang?

SAFRANSKI: Im Laufe der Zeit schon. Jedenfalls haben die beiden es so gesehen. Es gibt auch ein wirkliches Ergänzungsprinzip. Goethe geht stark intuitiv vor, indem er, wie er selber sagte, "dunkel arbeitet". Schiller dagegen ist das Bewußtseinsgenie und arbeitet in vollkommener Helligkeit. Wie der eine dem anderen Unbewußtheit in der Erkenntnis schenkt und der andere dem einen Bewußtheit, das ist wunderbar nachzulesen im Briefwechsel der beiden.

JOURNAL: Die Beschäftigung mit einer geistig so reichen Zeit beflügelt auch den Geist des Lesers. Wie ist es dem Autor beim Schreiben ergangen?

SAFRANSKI: Auch ich hatte großes Vergnügen und habe mich beim Schreiben hinwegtragen lassen.

JOURNAL: Es scheint, als fühlten Sie sich in dieser goldenen Zeit zu Hause.

SAFRANSKI: Auf jeden Fall. Es ist eine reiche Zeit, und ich verstehe mich auch so ein bißchen als jemand, der deutlich zu machen versucht: Es ist noch viel Zukunft in der Vergangenheit.

JOURNAL: Ziehen Sie das Zwiegespräch mit den Vorfahren oft dem mit den Zeitgenossen vor?

SAFRANSKI: Bisweilen ja. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Vor zwei Jahren schrieb ich gerade an dem Kapitel, in dem davon die Rede ist, daß Schiller Ende des 18. Jahrhunderts in den Streit über die Freiheit im Körper, im Gehirn und in den Nervensystemen verwickelt war. Zu der Zeit entbrannte gerade eine heftige Debatte darüber, daß Neurowissenschaftler behauptet hatten, es gebe keinen freien menschlichen Willen. Und da mußte ich feststellen: Der aktuelle Streit brachte erstens keine neuen Argumente, und zweitens wurden sie früher eleganter vorgetragen.

JOURNAL: Gibt es nicht nach der Zwiesprache mit der Vergangenheit oft ein hartes Auftauchen in der Gegenwart?

SAFRANSKI: Da ich viel auf Reisen bin mit Schiller, bleibe ich sozusagen eingehüllt von der Thematik. Also ziehe ich in meiner Schiller-Blase durch die Lande.