In Großbritannien und den USA hat die Musikindustrie sich von ihrer Krise erholt - bei uns suchen Plattenfirmen die Schuld an der Krise weiterhin am liebsten bei den Medien. Aber die gesamte Musikkultur ändert sich.

Zuerst die gute Nachricht: Nach acht Krisenjahren geht es wieder aufwärts im Musikgeschäft. Ein Plus von drei Prozent sei zu verzeichnen, meldet feierlich die Industrie. Die Menschen kaufen DVDs. Sie laden aus dem Internet Musik und zahlen brav. CD-Alben, jene für tot erklärten Tonträgerformate, würden sogar häufiger gekauft als je zuvor.

Die schlechte Nachricht: Das geschieht in Großbritannien. Während auch Amerika den Umsatz von Musik wieder zufrieden steigert, hat die deutsche Plattenindustrie sich immerhin entschlossen, Zuversicht zu äußern. Zum 20prozentigen Umsatzeinbruch des vorigen Jahres seien "nur noch sechs Prozent" hinzugekommen. Eine "Trendwende", verspricht Gerd Gebhardt von der Phonowirtschaft. Das wird ihm der traurige Musikmarkt nicht glauben. Denn auch weiterhin wird eingespart, entlassen und gekürzt werden. Die Sony-BMG-Fusion 2004 wird nicht die letzte ihrer Art gewesen sein. Die Krise bleibt.

Warum haben Amerika und Großbritannien es schon wieder besser? Erstens: Sie verfügen über attraktivere Musik aus landeseigener Produktion. Das Fernsehen, zweitens, zeigt sie gern, das Radio sendet sie. Und drittens, sollten sich die Medien dort einmal der Musik verweigern, werden sie nicht zuverlässig von der Industrie beschuldigt, die Musiklandschaft zu ruinieren. Deutsche Plattenfirmen suchen gern die Schuld bei anderen. Bei Kindern, die CDs kopieren. Bei Konzernzentralen, die aus London und New York den Deutschen nur ihre Musik andrehen wollen. Und am liebsten bei den ignoranten Medien.

Wer sich vor Fernsehern und Radios erfreuliche Musik verspricht, wird tatsächlich seltener beschert. Damit ist weniger die Dämmerung der Castingshows gemeint. Auch nicht das Musikantenwesen oder die bezahlten Firmenauftritte bei "Wetten, dass . . .?" Am auffälligsten fehlte die Musik auf MTV, beim sogenannten Music television. In der besten Sendezeit wurden die Videoclips ersetzt durch rätselhafte Doku-Soaps und lächerliche Trash-Formate. Fernsehsprachlich heißt das "Vollprogramm".

Im Sommer übernahm der Medienkonzern Viacom, zu dem auch MTV gehört, den deutschen Sender VIVA. In dem hatten sich noch Nischen wie "Fast Forward" mit Charlotte Roche halten können. Nun, im großen Haus von MTV, sollen diese Inseln musikalischen Geschmacks verschwinden. Dessen Herrin Catherine Mühlemann gefällt sich darin zu erklären, daß Musik ihr nichts bedeute. "Ich kam nicht als Spezialistin für Musik. Ich wurde eingestellt, um die Gewinne zu maximieren." Deshalb mutet MTV am Abend bereits an wie eine Art globales RTL.

Für Plattenfirmen ist dieser Verlust der wesentlichen Werbeplattform wirtschaftlich durchaus dramatisch. Um die Schuld am kulturellen Niedergang den Medien zuzuweisen, ist das Ende des Musikfernsehens aber auch ein willkommener Anlaß. Es fällt schwer, die Teufelskreise der vergangenen Jahre zu entwirren. Werden weniger passable Videoclips gedreht, weil Sendeplätze schrumpfen? Oder werden Kuppel-Shows auf MTV gezeigt, weil Plattenfirmen kaum noch über Geld für annehmbare Videoclips verfügen?

MTV ging 1981 in Amerika auf Sendung mit der Hymne "Video Killed the Radio Star". Die Industrie stellte die Videos zur Verfügung. MTV gesellte zu der kostenlosen Werbung einträgliche Werbeclips für Jeans und Unterhaltungselektronik. Auch die Plattenindustrie erlebte ihren Aufschwung durch die Markteinführung der CD. Musik galt in den achtziger Jahren noch als wichtigster Geschäftszweig, um an die Finanzen junger Menschen zu gelangen.

Darauf richtete die Industrie sich ein. Sie wucherte und wuchs. Sie feierte und wurde dabei in den neunziger Jahren überrascht vom Einbruch der Bilanzen. Aus verschiedenen Gründen: Die CD als Medium war geschäftlich ausgereizt. Musik war, einmal digitalisiert, ohne Verlust kopierbar. Sie verschwand im Internet, wo Fans sie unentgeltlich tauschten. Und beim jahrelangen Schwelgen in erfreulichen Bilanzen sprach die Industrie nur noch von "Einheiten" oder "Produkten", seltener von Künstlern.

Musik wurde entwertet als Identifikationskultur. Was unglücklicherweise in die Zeit der konkurrierenden Verlockungen der Jugend fiel: Computer, Bildschirmspiele, Billigmode, Funsportarten, Soaps und mobile Telefone. MTV mag die Degradierung der Musik zum Soundtrack einer Freizeitindustrie befördert haben - zu verantworten haben den Verfall die Plattenfirmen selbst.

Beim Radio lief es ähnlich. Schon das Privatradio der Achtziger und Neunziger diente dem breiten Publikumsgeschmack. Es spielte also stündlich jene Hits, die sich als Singles und in Hitsammlungen gut verkauften. Daß dies auch gebührenfinanzierte Radiosender seither tun, ist zwar ein Drama und entspricht kaum ihrem kulturellen Auftrag. Aber auch von ihnen kann niemand verlangen, Songs zu spielen, die sie nicht für so gelungen halten. Dem dient nun die sogenannte Selbstverpflichtung, die am 17. Dezember durch den Bundestag beschlossen wurde. So wird ein Medium verpflichtet, für die ratlose und klamme Plattenindustrie zu sorgen.

Als die deutsche Popband Wir Sind Helden mit der Sängerin Judith Holofernes 2004 bei der Echo-Preisverleihung abräumte, waren die Plattenfirmen überrascht. Die Band verdankte ihren Aufstieg einer kleinen Firma. Wie die Industrie den Schreck bewältigte, verrät sehr viel über diese Industrie. Bei BMG wurde die Gruppe Silbermond unter Vertrag genommen, Universal band die Gruppe Juli , Warner setzte auf die Gruppe Wunder. Wert gelegt wurde darauf, daß sich ein Mädchen beim Gesang von ihren Schulfreunden begleiten ließ, auf den Gehalt der Lieder weniger. Die Medien tun im Augenblick ihr Möglichstes. Sie senden das, bis niemand es mehr sehen oder hören will.