Am 2. März hatten wir Sie anlässlich des Fernsehfilms “Die Flucht“ dazu aufgerufen, uns Ihre persönliche Geschichte zu senden. Zahlreiche Zuschriften haben uns seitdem erreicht. Sie zeugen von Trauer, Verlust und Gewalt, aber auch von kleinen Zeichen der Hoffnung in unmenschlicher Zeit. Wir haben hier eine kleine Auswahl getroffen, stellvertretend für die Erlebnisse einer ganzen Generation. Am heutigen 8. Mai ist der Krieg seit 62 Jahren vorbei. Für viele Menschen bestimmt er ihr Schicksal bis heute.

Irmgard Sen Gupta (66), Halstenbek: "Jahrelang plagten mich als Kind entsetzliche Träume: Ich sah tote Soldaten am Straßenrand liegen, brennende Häuser, schreiende Kinder und einen Mann mit nur einem halben Bein, aus dem so viel Blut herausfloss. Diese Träume wiederholten sich, immer und immer wieder! Heute weiß ich, dass ich all das Grauenhafte mit meinen vierjährigen Augen auf der Flucht wirklich gesehen habe. Mein kleines Herz war krank vor Angst."

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Margot Gehrmann (71), Hamburg: "Meine Macken habe ich immer noch, meine schreckliche Höhenangst ist leider nicht vorbei. Jedes Kleidungsstück muss nach einmaligem Tragen in die Waschmaschine; Läuse + Flöhe müssen nur genannt werden, ich bekomme sofort Pickel auf der Haut. Essbares wegwerfen kann ich immer noch nicht."

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Manfred Just (73), Hamburg: "Als wir jetzt - das Schiff war inzwischen ziemlich voll - zum Essenholen in den Saal mit den Verwundeten kamen, empfing uns ein grausamer Gestank nach Verfaultem. Nur mit angehaltenem Atem konnten wir ihn laufend durchqueren. Wir trauten uns kaum, die armen Gestalten, von denen einige mit dem Tode kämpften, anzusehen. So ging es uns jedes Mal, wenn wir unser Essen holten. Und dennoch verging uns nicht der Appetit; ich glaube, Kinder können vieles besser abschütteln als Erwachsene."

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Maria Kreiser (46), Neu Wulmstorf, hat die Geschichte ihrer Mutter Magdalena Reiswich (79) aufgeschrieben: "Als ich in dieser Nacht an meinen Vater gedrückt dalag, hörten wir die russischen Soldaten kommen. Ich nahm mir vor, mich aus aller Kraft zu wehren, auch wenn sie mich umbringen würden. Mein Leben bedeutete mir in dieser Zeit nicht mehr viel. Ich wollte nur nicht gedemütigt, geschändet und gequält werden. Ich hörte die Soldaten bereits darüber streiten, wer mich als Erster vergewaltigen sollte. Einer war bereits in der Scheune und tastete nach mir. Ich zitterte am ganzen Körper und sah meine letzte Stunde nahen. Bei den anderen Soldaten löste sich im Streit ein Schuss (. . . ) Darauf ließen die Soldaten von ihrer Absicht ab, und ich blieb ein weiteres Mal unversehrt."

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Armin Janz (69), Tangstedt: "Seit dem 17.1.1945 haben wir von meinem Vater nichts mehr gehört. Ist er damals gefallen oder in Gefangenschaft geraten? Wir wissen es nicht. Meinen Vater habe ich eigentlich mein ganzes Leben lang vermisst."

Die Zuschriften der Abendblatt-Leser zum Thema Flucht und Vertreibung waren so zahl- und umfangreich, dass nur ein Teil von ihnen abgedruckt werden konnte. Weitere Erfahrungsberichte werden in den nächsten Tagen online gestellt. Selbstverständlich bekommen alle Einsender ihre Unterlagen so bald wie möglich zurück.