Lotte Heidenreich (72), geborene Rohmann, hat das, was sie als zehnjähriges Mädchen in Ostpreußen und Russland erlebte, zehn Jahre später aufgeschrieben. Dem Schreiben ist sie bis heute treu geblieben (www.ewnor.de).

"Unsere Mutter hatte viele Sorgen, denn Vater war nach dem Polenfeldzug gestorben, alles lastete seitdem auf ihr. Wenn die Flieger kamen, setzten wir uns in die Ecken, zitterten vor Angst und warteten darauf, dass jeden Moment das Dach über uns zusammenstürzen würde. (. . .) Wir entschlossen uns nun doch, den Hof zu verlassen und zu unserer Großmutter nach Michelsdorf, einem versteckten Dörfchen, zu fahren, wo wir uns sicherer glaubten. (. . .)

Es waren schon etliche Leute dort, und das Haus war voll. Alles flüchtete vor dem drohenden Unheil in den Wald. Ich weiß nicht, wie lange wir uns dort versteckt hielten, bis uns die Russen doch fanden. Das Knallen war schon sehr nah, weit konnten sie nicht mehr sein. Abends sahen wir über den See nach Passenheim, die Russen waren dort schon einmarschiert. Über den See konnte man deutlich Schüsse hören und die Leuchtkugeln erkennen. Die folgende Nacht war schrecklich. Auf dem Hof heulten die Hunde, es klang schaurig durch den Wald, dieses Heulen. Ängstlich kroch ich hinter den Schrank. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und lehnte auch ein verlockendes Schinkenbrot ab, dass mir Mutter entgegenhielt. In der guten Stube, die von Kerzenlicht erleuchtet war, sah ich einige Leute innig beten.

Plötzlich peitschten Schüsse durch die Stille. Eine Horde wilder Männer stürmte in das Haus. Mein Herz schlug, als wollte mir die Brust zerspringen. Alle standen auf und erhoben die Arme. Auch ich kroch aus meiner Ecke hervor und hob verwirrt die Hände hoch. Wir wurden zur Seite geschoben wie tote Gegenstände. Ich hörte sie schreien ,Uuhri?!' oder ,Frau, komm!' Ich wusste damals noch nicht, was das bedeutete, dass meine Mutter und meine Schwestern Irma und Ulla, die bereits 14 bzw. 16 Jahre alt waren, in den fürchterlichen Stunden, die dann kamen, ständig aus dem Zimmer herausgeholt wurden.

Unter schrecklichen seelischen und körperlichen Qualen lebten wir hier noch einige Tage. Die Pferde wurden fortgeholt, Hunde und alles Getier, was den Russen im Wege war, wurde einfach niedergeschossen. Obwohl ich auf einem Bauernhof groß geworden bin, habe ich hier zum ersten Male Blut gesehen. War es auch nur Blut von Tieren, so floss es doch in großen Lachen auf den Hof. Es kamen ständig neue Soldaten zu uns, und die Mädchen wurden immer wieder herausgeholt.

(. . .) Eines Tages hieß es: ,Alles aussteigen, Charkow.' Wir mussten uns aufstellen. Nach vielem Zählen war es endlich so weit. Langsam ging es dem Lager zu. (. . .) Alle Leute, die gesund waren, mussten arbeiten. Mama und Ulla waren zu schwach, nur Irma sollte arbeiten. Irma war doch erst 14 Jahre alt, und wir wussten, dass auch sie krank war. Irma aß sehr wenig, sie hat viel aushalten müssen. Manchmal weinte sie still vor sich hin. (. . .)

Eines Tages sah ich meine Schwester Irma am Stacheldraht. Sie sah sehr schlecht aus, und ich teilte von nun an mein Lazarettessen mit ihr, denn sie konnte das klitschige Brot überhaupt nicht mehr essen. (. . .) Man brachte die Kranke zu uns herein. Ich erkannte sofort Irma. ,Irma, Irma', rief ich, ,das ist ja meine Schwester!' Ihre Augen starrten ins Leere, sie erkannte mich nicht mehr. (. . .) Zwei Tage später erfuhr ich, dass auch sie gestorben sei.

Ich war ganz hohl, mein Inneres schien nicht mehr zu sein. Ich spürte kein Herz, kein Blut, kein Fleisch. Ich war nur noch eine wesenlose Hülle."

Lotte Rohmann hat als Einzige ihrer Familie überlebt. Mit 21 wandert sie für elf Jahre nach Amerika aus. In Hamburg arbeitet sie danach als Bürokauffrau bei Blohm & Voss, ist lange verheiratet. Rückblickend sagt sie: "Es war eine verzweifelte Suche nach Leben, nach Gott. Ich habe es geschafft, mich einzurichten."