Herbert Grenz (65), geboren in Pillau/Ostpreußen:

"Ich war drei Jahre und drei Monate alt, als wir Pillau verlassen mussten. Normalerweise reichen Erinnerungen nicht bis in dieses Alter zurück. Die persönlichen Erlebnisse, gemeinsam mit meinen beiden Brüdern, unserer Mutter und der Mutter meines Vaters, waren aber so außergewöhnlich, dass ich sie heute noch wie einen Film vor mir ablaufen sehe. (. . .)

Kurze Zeit bevor wir Ende Januar 1945 Pillau verließen, wurde ein großes Munitionslager in unsere Nähe von Fliegerbomben getroffen. (. . .) Mein ältester Bruder tauchte einfach innerlich ab und blieb zeitlebens ein achtjähriges Kind. Körperlich entwickelte er sich ganz normal, überwiegend auch geistig. Er konnte eine Schule besuchen und entwickelte enorme mathematische Fähigkeiten. (. . .)

Unsere Flucht begann damit, dass uns der Tonnenleger Samland an einem Freitag um 1 Uhr morgens im Schutze der Dunkelheit von der Anlegestelle in Pillau zum Marinehafen fuhr. Dort wechselten wir über schwankende Bretter auf ein anderes Schiff. (. . .) Mit den beide Schiffe verbindenden schwankenden Brettern verband sich für mich ein erstes einschneidendes Fluchterlebnis. Ich saß in meiner Kinderkarre, die meine Mutter auch als Transportmittel für unsere wenigen Habseligkeiten nutzte. Direkt vor uns bewegte sich ein gleiches ,Kindergespann'. Die Mutter konnte auf den schrägen Brettern das Gleichgewicht nicht halten und stürzte kopfüber mit Kind und Kinderwagen in das eisige Wasser. Meine Mutter schaffte den Übergang und konnte uns später zur Beruhigung sagen, dass sofort helfende Männerhände zugegriffen haben, um die andere Mutter mit ihrem Kind in Sicherheit zu bringen. (. . .)

Nachdem wir über eine Stunde auf dem Bahnsteig gewartet hatten, kam der ersehnte Zug - aber was für ein Zug: offene Loren mit schmalen Brettern an den Seiten und jeweils hinten einem kleinen Toilettenhäuschen. Zwei Nächte und einen Tag dauerte die Fahrt nach Kolberg. Eine grausige Fahrt, die wohl größte Strapaze der gesamten Flucht. Ich erinnere mich noch daran, wie wir bei Eiseskälte dicht gedrängt, um uns gegenseitig zu wärmen, unter Decken kauerten. Die Kinder und ihre Mütter saßen zur Sicherheit und, um es etwas wärmer zu haben, in der Mitte. Die an den Rändern hatten weniger Schutz; einige fielen von Zeit zu Zeit einfach steif gefroren runter. (. . .)

Es kann nicht sein, dass von bestimmten Verbänden und Organisationen gut 60 Jahre nach Kriegsende noch über Recht und Rückgabe gestritten wird. Es geht heute um viel höhere Güter - um Versöhnung und ein gemeinsames Leben in einem vereinten Europa. Wer das nicht begreifen kann, hat nichts aus der Geschichte gelernt. (. . .) Warum strecken wir als langjährige Europäer den Polen nicht unsere Hände entgegen, um sie als neue Mitglieder der europäischen Familie wirklich anzunehmen?"

Herbert Grenz' Vater stirbt, als er drei, die Mutter, als er acht Jahre alt ist. Die drei Kinder leben nach dem Krieg in einem Waisenhaus. Herbert studiert später Volkswirtschaft und Musik, arbeitet bei großen Bankhäusern und reist als Pianist und Organist durch Europa. Herbert Grenz hat heute drei Kinder und zwei Enkelkinder.