Der ehemalige Trainer beider Vereine, Willi Reimann, analysiert für das Abendblatt das Derby zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV.

Um es vorwegzunehmen: Nach den hohen Erwartungen im Vorfeld des Derbys empfand ich das Spiel am Sonntag, das ich auf der wunderbaren neuen Haupttribüne erlebt habe - Glückwunsch, St. Pauli! -, als eher ernüchternd. Während sich die Fans alle Mühe gaben und sich dieses lange herbeigesehnten Aufeinandertreffens der Lokalrivalen würdig zeigten, konnte die Partie dem Engagement auf den Tribünen nicht standhalten. Vor allem in der ersten Halbzeit war ich von diesem eher langweiligen Spiel mit seinen wenigen Torraumszenen wenig angetan, wobei meine Kritik vor allem an den HSV gerichtet ist. Enttäuschend, mit welch niedrigem Tempo sie die Partie heruntergespult haben. Das können sie wirklich besser.

Erst in den letzten 13, 14 Minuten wurde es spannender - nach dem Führungstor für St. Pauli, als der HSV mehr investieren musste. Dass die Mannschaft von Armin Veh noch den Ausgleich erzielen konnte, war glücklich, schließlich habe ich auch in der Schlussphase kaum Torraumszenen zu sehen bekommen, Petrics Treffer gehörte eher in die Kategorie Sonntagsschuss.

Gegen Mannschaften wie den FC St. Pauli muss man grundsätzlich mit mehr Offensivkraft agieren, mehr Mut zeigen, man braucht mehr Präsenz in der Spitze, um den Deckungsverbund des Gegners zu beschäftigen und unter Druck zu setzen. Es fehlte bei den Gästen aber an schnellem, direktem Spiel, jeder Ball wurde zunächst kontrolliert, höchste Priorität hatte offensichtlich der Ballbesitz, was zur Folge hatte, dass sich St. Pauli in aller Ruhe formieren konnte. Die Passivität des HSV spielte St. Pauli in die Karten, beide Mannschaften haben sich über weite Strecken der Begegnung neutralisiert.

Ich möchte betonen, dass ich mich nicht darüber auslassen möchte, ob Armin Veh anders hätte aufstellen können oder müssen, das steht mir nicht zu, ich beurteile nur, was ich auf dem Rasen des Millerntor-Stadions gesehen habe. Und zwar unter anderem, dass Jonathan Pitroipa zwar ein guter Dribbler ist, aber im Grunde können die Gegner die Tore abbauen, wenn er an den Ball kommt. Auch Eljero Elia hat viel mehr Qualität, als er gegen St. Pauli gezeigt hat. Van Nistelrooy erhielt viel zu wenig Unterstützung von seinen Mitspielern und konnte sich nicht so in Szene setzen wie gewünscht.

Eigentlich ist Fußball ein ganz einfacher Sport, wenn Tempo, Laufbereitschaft und Direktspiel funktionieren. Davon habe ich beim HSV zu wenig gesehen. Ich habe außerdem vermisst, dass bei dieser Fülle an Qualitätsspielern Einzelaktionen zu Torgefahr führen. Dieser Vorwurf betrifft nicht nur Elia, sondern beispielsweise einen Zé Roberto. Es darf einfach nicht sein, dass die Partie so dahinplätschert.

In der Zentrale hat Armin Veh ja mit Paolo Guerrero, Mladen Petric und Piotr Trochowski in relativ kurzer Zeit nun schon drei Spieler getestet, auch in den Medien wurde in den vergangenen Tagen schon über diese Position diskutiert. Ich bin der Ansicht, dass auf dieser Position normalerweise der torgefährlichste Spieler auflaufen müsste - und das ist Petric. Er wäre für mich die erste Alternative, nicht nur weil er in der Lage ist, aus der zweiten Reihe zu schießen, sondern auch weil er einen guten Ball in die Spitze spielen und van Nistelrooy gut in Szene setzen kann. Ihm sollte man ruhig mehr als ein, zwei Spiele das Vertrauen schenken und ihm die Chance geben, sich einzuspielen.

St. Pauli muss ich dagegen ein Kompliment aussprechen, sie haben gespielt, was sie können. Es war sicher keine überragende Leistung, aber sie können diese Partie zufrieden abhaken. Mir hat gefallen, wie präsent und engagiert sie waren, wie hoch die Laufbereitschaft war. Positiv überrascht war ich von Torwart Thomas Kessler mit seinem souveränen Auftritt. Ich bin überzeugt, dass er eine gute Zukunft bei St. Pauli vor sich hat. Der Ausgleichstreffer von Petric war nicht zu halten. Ich traue dem Aufsteiger durchaus zu, die Klasse zu halten, das Potenzial ist eindeutig vorhanden.

Was die gesteckten Saisonziele des HSV betrifft, so bin ich allerdings skeptisch. So wie sich die Mannschaft gestern präsentiert hat, fehlt in der Kreativabteilung etwas. Ich habe erhebliche Zweifel, dass der HSV in dieser Saison einen Platz unter den ersten fünf der Bundesliga erreichen kann. Für realistischer halte ich, dass der Klub sich am Ende zwischen Rang fünf und zehn einpendeln wird.

Willi Reimann absolvierte zwischen 1974 und 1981 175 Bundesligaspiele für den HSV (49 Tore) und wurde in dieser Zeit deutscher Meister, Pokalsieger und Europapokalsieger. Von 1986 bis 1987 trainierte er den FC St. Pauli. 1987 wechselt er für 600 000 Mark Ablöse für drei Jahre zum HSV.