Heidewitzka - das hatte nun keiner vermutet, dass wir derart furios ins Halbfinale einzögen, oder? Wow! Was hat mir am Freitag der Galao geschmeckt! Und unser Halbfinale wird ein echter Knaller: Gegen die Türken! Wir spielen quasi gegen unsere Mitbewohner. Das ist hart. Ich will die eigentlich gar nicht schlagen! Das sind mir zu viele! Und ich finde die meisten auch ganz nett! Zum Beispiel habe ich mich über die Jahre fast angefreundet mit Oktay. Ich kaufe bei ihm täglich Zigaretten und Zeitungen. Der Mann ist stets gut gelaunt und supernett.

Aber es hilft nichts. Am Donnerstag, wenn ich mir den "kicker" hole, tausche ich mit ihm die Rollen: Dann gibt er den schlecht gelaunten Morgenmuffel, der sich hinter seiner Zeitung verkriecht; ich dagegen den aufgekratzten Gute-Laune-Bär, der Witze erzählt, laut telefoniert und sich dabei zwischen den Beinen kratzt. Verkehrte Welt. Aber man lässt uns ja auch keine Wahl. Die Uefa zwingt uns dazu. Am Mittwoch heißt es: "Die oder wir." Und das ist keine ernsthafte Alternative für mich. Und es ist ja auch nur Fußball: Wir tun ja nichts. Wir wollen nur spielen.

Und ich glaube fest daran, dass wir das Finale erreichen. Vor den Kroaten hatte ich größeren Respekt. Sportlich gesehen natürlich. Die haben uns zu oft auseinander genommen in den letzten Jahren. Die türkische Mannschaft dagegen wirkt doch arg gerupft. Haben sie doch permanent am Limit gespielt. Eine kürzere Regenerationszeit. Und eine Verlängerung im Kreuz. Oder meinetwegen im Halbmond.

Ist halt kraftraubend: Die Türken schießen ihre Tore fast nur in der Nachspielzeit. In Hamburg kennen wir das nur aus Werbeagenturen: Den größten Teil der Arbeitszeit rumhängen und nur das Nötigste erledigen. Aber dann - kurz vor Toresschluss - kommt Hektik auf und plötzlich wird dann doch noch abgeschlossen, was man entspannt in einem Drittel der Zeit hätte erledigen können. Die können offenbar nur unter Druck.

Ich denke, wir müssen uns keine Sorgen machen. Die Hälfte der türkischen Spieler ist gesperrt, die andere verletzt. Die können froh sein, wenn sie überhaupt elf Mann in einem Stück aufstellen können. Das sehen ihre Fans offenbar auch so. Die wollten ja schon alle nach dem gewonnenen Elfmeterschießen auf den Platz, um sich zur Unterstützung anzubieten. Besser ist es.

Hilfe braucht vor allem Rüstü. Das ist nicht das türkische Äquivalent zur schweizerischen Kartoffelspezialität. Das ist ihr Ersatztorwart, der nur auf dem Platz steht, weil die Nummer eins, Volkan, seinem Namen alle Ehre gemacht hat. Rüstü trat früher noch mit Kriegsbemalung auf. Jetzt benutzt er Antifaltencreme. Der beweist eindrucksvoll, dass nicht jeder betagte Torwart noch in Form sein muss. Er kann vielmehr die üblichen Alterserscheinungen zeigen wie Desorientierung oder Arthrose. Aber: Achtung! Der hat gegen die Kroaten beide Tore vorbereitet. Der ist gefährlich - sogar für sein eigenes Team.

Was soll ich sagen, ich freue mich irgendwie auf das Spiel. Aber irgendwo tut es mir auch leid. Zwickmühle nennt man das wohl.

Ein Beispiel:

Ich fahre mit meiner fast dreijährigen Tochter durch die Stadt. Sie juchzt hinten auf ihrem Sitz bei jeder Deutschland-Fahne, die sie draußen sieht. Auf dem Parkplatz eines Discounters entdeckt sie dann an einem Opel eine türkische. Sie zeigt darauf und sagt: "Guck mal, Papa. Die Fahne ist aber nicht richtig!" Ich habe natürlich versucht, ihr zu vermitteln, dass diese Flagge nicht falsch ist, sondern nur anders. Aber irgendwie hat sie ja auch recht, oder? Zumindest für neunzig Minuten...

Und nur, dass wir uns richtig verstehen: Ich bin kein Nationalist. Ich hätte gestern beinahe eine Frau überfahren, die an ihrem Rad immerhin drei (!) Deutschlandfahnen befestigt hatte. Das ist die Kehrseite des Sommermärchens: Manche glauben nach dem Portugalspiel, schwarz-rot-gold verliehe übermenschliche Fähigkeiten. Oder zumindest das Recht, bei roter Ampel die Kreuzung zu queren. Das wiederum ist falsch.