Der Bundestrainer will die Problemzonen bearbeiten: rechte Außenbahn, Standards, Innenverteidigung. Bei Metzelder erkennt er Fortschritte.

München/Hamburg. Nach intensivem Videostudium daheim im Schwarzwald packt Joachim Löw frohen Mutes den "Feinschliff" für den EM-Ernstfall gegen Polen an - Zeit vergeuden will der Bundestrainer dabei keine. Gleich nach dem zweitägigen Kurzurlaub der 23 Fußball-Nationalspieler und der Anreise ins Luxus-Quartier am Lago Maggiore im Tessin hat der Bundestrainer für den heutigen Dienstag das erste Training angesetzt und startet damit den 100-Stunden-Countdown bis zum Auftaktspiel am Sonntag in Klagenfurt gegen Polen. "Die Anspannung wird von Tag zu Tag steigen. Das brauchen wir, um Höchstleistungen zu bringen", sagte Löw.

"Wir werden noch einiges tun. In allen Mannschaftsteilen fehlt es noch an der Feinabstimmung. Auch Standards stehen auf dem Programm", berichtete Löw, der in den intensiven Übungseinheiten auch noch einen heißen Kampf um die letzten offenen Positionen in der Startelf sehen möchte: "Die frischen Trainings-Eindrücke sind sehr wichtig für die Aufstellung. Ich habe da noch zwei, drei Möglichkeiten." Der Bundestrainer bestätigte, dass gerade die couragierten Auftritte von Lukas Podolski seine Überlegungen zur Startelf noch einmal neu angeregt haben. Der Münchener Profi könnte im Angriff oder links offensiv im Mittelfeld eingesetzt werden. "Die Option haben wir ja schon lange", sagt Löw, der sich alle Möglichkeiten offen hält.

Alle Maßnahmen sind ausgerichtet auf das Polen-Spiel, das zur Nagelprobe wird. "Da muss das richtige Zeichen kommen", betonte der mit Macht in die Startelf drängende Podolski: "Unser Ziel ist es, Europameister zu werden." Die Fans haben überall in Deutschland an den Autos schon wieder die schwarz-rot-goldenen Fähnchen geflaggt, die Erwartungshaltung ist riesig. Präsident Theo Zwanziger, der die DFB-Delegation anführt, die heute um 11.05 Uhr mit einer Lufthansa-Sondermaschine von Frankfurt nach Lugano abheben soll, warnte allerdings vor einem bösen Erwachen. "Das erste Spiel ist eine Standortbestimmung: Wenn du das vergeigst, wird es sehr schwer weiterzukommen." Edeljoker Oliver Neuville ist schon in seiner alten Heimat, auch die anderen 22 Spieler sind fit für den letzten Schliff.

Die Rahmenbedingungen sind geschaffen, nun muss Löw schleunigst die Baustellen in der Mannschaft beseitigen. Der Bundestrainer will die "richtigen Schlüsse" aus der Video-Analyse der Generalprobe gegen Serbien (2:1) ziehen - eine personelle Veränderung im Abwehrzentrum gehört nicht dazu. Obwohl Christoph Metzelder beim letzten Test keine EM-Form nachweisen konnte, bescheinigte der Bundestrainer seinem Abwehrchef am Montag im "kicker" nach nochmaligem Studium der 90 Minuten sogar Fortschritte: "Dieses Spiel hat ihn nach vorn gebracht."

Viele Bundesligaexperten und Trainer zweifeln an dieser Einschätzung und halten sie für bedingungslose Rückendeckung mangels besserer Alternativen. Auch der ehemalige Nationalspieler Thomas Helmer meint: "Man merkt Christoph Metzelder immer noch an, dass er lange nicht gespielt hat. Das geht auch nicht von heute auf morgen. Aus meiner Sicht bräuchte er noch zwei, drei Spiele. Wenn er aber gut durch die erste Partie kommt, könnte sich das Problem schnell verflüchtigen."

Als wesentlich größere Problemzone betrachtet die sportliche Leitung des DFB offenbar die rechte Außenbahn. Der Ausfall des verletzten Bernd Schneider wird als "gravierend" bewertet. Clemens Fritz, Bastian Schweinsteiger und David Odonkor könnten den Routinier "nicht eins zu eins ersetzen", bemerkte Löw. Und Tim Borowski, womöglich eine Notlösung rechts, hat nach seinem grippalen Infekt körperlich Nachholbedarf und war bislang vor allem als möglicher Ersatzmann für Michael Ballack vorgesehen, falls dieser mal ausfällt.

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In unterschiedlichen Spielformen will Löw seine potenziellen Offensivspieler für die rechte und für die linke Seite weiter intensiv unter die Lupe nehmen. "Dass Joachim Löw Lukas Podolski als ernsthafte Variante für das linke Mittelfeld betrachtet, zeigt ein bisschen seine Verzweiflung in diesem Mannschaftsteil", sagte Helmer dem Abendblatt.

Wie Löw und sein DFB-Trainerstab haben viele Experten Geschwindigkeitsdefizite über die Außenbahnen im deutschen Spiel erkannt. Das Manko könnte zu einem Problem werden, falls die Außenverteidiger in der Vorwärtsbewegung wie zuletzt zu wenig Tempo aufnehmen (vor allem rechts) und keine brauchbaren Flanken produzieren, zudem potenzielle Alternativen aus dem Mittelfeld wie Schweinsteiger weit hinter ihren Möglichkeiten bleiben.

Trotz dieser Erkenntnisse wirkt Löw entspannt. Er weiß um die verbliebene Restzeit, er kennt das belebende Element positive Eigendynamik, das ein erfolgreiches Auftaktspiel mit sich bringen kann, und er kennt den Ehrgeiz seiner Spieler.

Die deutschen Auswahlkicker genossen ihren letzten Mini-Urlaub vor dem EM-Start. Für das Unternehmen "Feinschliff" sind sie nun gerüstet und wollen ihre Kritiker - ähnlich wie bei der WM 2006 - eines Besseren belehren. Dabei verfallen sie allerdings nicht in Selbstüberschätzung. Der schon gegen Serbien in bester EM-Form agierende Kapitän Michael Ballack stellte für den Vorbereitungs-Endspurt eine klare Forderung: "Der eine oder andere muss noch einen Zahn zulegen."

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