Der Bundestrainer setzte zu stark auf spielerische Komponenten, zu wenig auf Aggressivität. Kämpferisch konnte nur Sami Khedira überzeugen.

Hamburg. Eigentlich war das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien schon vor dem Anpfiff entschieden. Wer sah, wie inbrünstig die Italiener ihre Hymne sangen, ja schrieen, der konnte den Willen ahnen, mit denen sie die folgenden 95 Minuten angehen würden. Diese hörbare Hingabe, diese Bereitschaft, alles geben zu wollen, habe ich dagegen im deutschen Team vermisst. Und das schmerzt, denn unsere Mannschaft hatte die Qualität, um Europameister zu werden. Wobei ich diese These gleich einschränken muss. Die spielerische Klasse war vorhanden, nicht aber die kämpferische. Da fehlte mir zum Teil die richtige Einstellung, die Mentalität, die Sieger haben, die Körpersprache eines Mario Balotelli, der nur einen Gedanken in seinem Kopf zu haben scheint: Wie schieße ich ein Tor.

Bei Spielen von zwei nahezu gleichwertigen Mannschaften gewinnt eben immer jene, die mehr Einsatz zeigt , die aggressiver in die Zweikämpfe geht, nicht die, die den schöneren Fußball zelebriert. Die Italiener haben uns vorgemacht, wie man in einem EM-Halbfinale aufzutreten hat: zielstrebig, gierig und körperbetont - und nicht nahezu körperlos wie unsere Elf. Allein Khedira, der beste deutsche Spieler dieses Turniers, bildete hier eine Ausnahme.

Bezeichnend war die Entstehung des 1:0. Im Mittelkreis gerät Italiens Spielmacher Pirlo nach einer Attacke Özils ins Straucheln, rappelt sich wieder auf, läuft acht Meter zurück, ohne dass Özil nachsetzt, und ist dadurch so frei, einen präzisen Pass auf Cassano zu schlagen. Der wiederum wird von Hummels nur halbherzig angegriffen, eine simple Körperdrehung genügt Cassano, um ungestört flanken zu können. Dass dann Badstuber Balotellis Kopfball nicht verhindert, ist in dieser Abfolge noch der verzeihlichste Fehler.

+++ Deutschland auf der Suche nach dem verlorenen Sieger-Gen +++

Die Ursache der zum Teil blutleeren Vorstellung der deutschen Mannschaft liegt für mich mit am Viertelfinale gegen Griechenland. Dieser 4:2-Sieg ist überbewertet worden. Ja, das war ein überzeugender Erfolg mit einigen spielerischen Glanzpunkten, keine Frage, zudem der gefeierte 15. Pflichtspielsieg in Serie, doch der Gegner - ohne Zweifel ein unangenehmer - genügte nicht höchsten europäischen Ansprüchen. Das ist bei all den Lobeshymnen vergessen worden und führte zu diesem verhängnisvollen Irrglauben, bei dieser EM alle Aufgaben spielerisch lösen zu können. Da mag der schmale Grat zwischen Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung verlassen worden sein.

Der Bundestrainer hat diese Haltung noch befeuert, indem er mit Podolski, Gomez und Kroos gegen Italien drei Spieler in die Startelf einwechselte, die nicht gerade robustes Zweikampfverhalten auszeichnet. Hinzu kommt: Podolski und Gomez hatten gegen Griechenland ihren Stammplatz verloren und standen bei ihrer Rückkehr unter Beweisnot. Das wird sie neben der allgemeinen Kritik an ihren EM-Leistungen zusätzlich belastet haben. Beides sind sensible Typen, die sich gern mitreißen lassen wollen und eher keine, die einen emotionalen Trend drehen können. Als Löw in der Halbzeit seine Formation korrigierte, Klose und Reus einsetzte, hatte er das Momentum schon verspielt. Klose und Reus hätten mit dem Elan, den sie aus ihren gelungenen Auftritten im Griechenland-Spiel mitgenommen hätten, von Beginn womöglich andere Akzente gesetzt - wenn sie weiter Löws Vertrauen gespürt hätten.

+++ Joachim Löw: Der entzauberte Bundestrainer +++

Den Bundestrainer für seine Aufstellung zu tadeln, fiele in Anbetracht des Ergebnisses leicht. Die vielen Hätte im Satz zuvor zeigen aber schon, wie schwer Vorteile und Nachteile bestimmter Personalkonstellationen für einen Trainer abzuwägen sind. Das Problem liegt dann auch mehr im Grundsätzlichen. Löw hat in den vergangenen Jahren stets auf einen intakten Mannschaftsgeist gesetzt, was ein wichtiger Teil der Stärke seines Teams ausmacht. Andererseits hat er vernachlässigt, den Kampfgeist zu schulen. Das ist für mich die Lehre aus dieser EM. Ziehen wir jetzt die richtigen Schlüsse, können wir 2014 Weltmeister werden - wenn wir nicht auf die Italiener treffen.