Die gewohnte Siegesfeier nach Niederlagen fällt diesmal aus. Das eröffnet die Chance, die Defizite im deutschen Fußball aufzuarbeiten

Die Griechen wurden gerade in den Euro aufgenommen, der Bundeskanzler hieß Gerhard Schröder, der Bundespräsident Johannes Rau, als die Anhänger des FC Bayern das wohl bekannteste Transparent der deutschen Fußballgeschichte entrollten. "Heute ist ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben" stand in riesigen Lettern auf einer Plastikplane im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion. Die Bayern schrieben dann auch Geschichte, besiegten den FC Valencia und eroberten die Krone im europäischen Vereinsfußball, die Champions-League-Trophäe.

Niemand konnte damals erahnen, wie historisch dieser Moment wirklich war. Elf Jahre wartet nun Deutschland auf den nächsten großen Triumph. Und zumindest bei der Nationalmannschaft wird die titellose Durststrecke wenigstens bis 2014 währen.

Hat Deutschland, immerhin dreimaliger Welt- und dreimaliger Europameister, das Sieger-Gen verloren? Fehlen der Mannschaft die Sieger-Typen? Sind "Jogis Jungs zu soft für den Titel", wie "Bild" analysierte?

In Momenten großer Niederlagen schimmert in Deutschland immer die heimliche Sehnsucht nach angeblich echten Kerlen durch. Nach Kickern wie Lothar Matthäus, Stefan Effenberg oder Oliver Kahn, die sich gern - privat wie beruflich - als Anführer mit Ecken und Kanten inszenieren. Und plötzlich gelten die Özils, die Lahms, die Müllers, gerade noch als Himmelsstürmer gefeiert, als verhätschelte Verlierer.

Keine Frage, dieser radikale Wechsel im Rollenfach ist populistisch, in gewisser Weise sogar ungerecht. Und doch lohnt die Diskussion über das Sieger-Gen. Im Fußball blitzt der Mentalitätsunterschied zwischen zwei Teams mitunter in einer einzigen Szene auf. Im Spiel gegen Italien war es die 36. Minute, als der zweimalige Torschütze Mario Balotelli sich das Trikot vom Leibe riss und wie ein Bodybuilder posierte. Unvorstellbar, dass ein deutscher Spieler derart gegen das löwsche Gebot von der "högschden Diszplin" verstoßen würde, zumal eine solche Aktion immer mit einer Verwarnung bestraft wird. Ohnehin hätte Löw einen Spieler mit dem Sündenregister eines Balotellis - inklusive zerlegter Sportwagen, Schlägereien und brutaler Fouls - längst verbannt. Der Exzentriker mit der Hahnenkammfrisur würde ins deutsche Team in etwa passen wie ein sockenloser Piraten-Politiker mit Sandalen ins Merkel-Kabinett.

Es war der ehemalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann, der vor acht Jahren das Bild von einer neuen Nationalmannschaft in seiner Wahlheimat USA am Reißbrett entwarf. Sympathisch, offensiv, allürenfrei. Deutsche Profis, eben noch verhöhnt als Rumpelfußballer, mutierten plötzlich zu Sommermärchen-Stars. Die glänzende Inszenierung überdeckte mühelos unübersehbare Schwächen im Drehbuch. Besoffen vor Glück feierte Deutschland nach der WM 2006 und der EM 2008 seine Helden trotz jeweiligen Scheiterns auf der Zielgeraden. Wer wie DFB-Sportdirektor Matthias Sammer die Siegesfeiern nach Niederlagen mal bekrittelte, galt als Miesepeter. Der Rausch verhinderte den nüchternen Blick auf unübersehbare Schwächen - etwa dass die deutsche Mannschaft im Halbfinale der WM 2010 kein Mittel gegen die spanische Passkunst fand. Selbst da hofften viele deutsche Fans auf die gewohnte Feier - vergebens. Diesmal kam der Wunsch nach einem Fan-Happening gar nicht erst auf. Statt zum Laufsteg in der Hauptstadt flogen die deutschen Fußballer am Freitag in der Verlierer-Klasse gen Frankfurt.

Der brutale Abpfiff der großen Fußball-Party tut weh. Und er ist doch eine große Chance. Denn ernüchtert lassen sich Stärken und Defizite entschieden besser analysieren. Ganz oben auf der Agenda muss dabei die Mentalitätsfrage stehen. Warum wirkt die spielerisch so starke deutsche Mannschaft in Schlüsselspielen wie gegen Italien nach Rückständen gelähmt? Ist es wirklich richtig, das Team bei großen Turnieren so rigide vor den Fans abzuschotten? Vor allem aber: Braucht der deutsche Fußball nicht doch zumindest einen kleinen Exzentrik-Schuss Marke Balotelli?

Joachim Löw wird Antworten finden müssen. Hoffentlich die richtigen. Die Durststrecke zum nächsten deutschen Titel sollte nicht bis zum möglichen Abschied der Griechen aus der Euro-Zone währen.