Man muss nur Erfahrung, Fachwissen, Hintergrundinformationen und mathematisches System richtig kombinieren. Sagen die Profis. Dieses Wochenende fiebern sie wieder in Hamburg-Horn.

Hamburg. Der Fahrplan fürs Derby-Wochenende steht. Um 7.10 Uhr am Sonnabend steigt Günter Wenzel am Kölner Hauptbahnhof in den Intercity 2212, Endstation Hamburg 11.12 Uhr. Das Gepäck passt in eine Reisetasche: Zweitanzug, Schlips, Zahnbürste, Laptop, die Fachzeitung "Sport-Welt" - und 10 000 Euro in bar. Gebündelte 50-Euro-Scheine, eingerollt ins blau-weiß gestreifte Sonntagshemd.

Ebenso klar ist das Ziel: Wenzel will Kasse machen. Für ihn ist das Deutsche Galopp-Derby Großkampftag. Motto: "Das Geld liegt auf der Rennbahn - du brauchst es nur aufzuheben." Gewusst wie. Wobei die 10 000 Euro im Handgepäck nur Spielgeld für die Spontanwette am Totalisator sind. Die wirklich großen Einsätze platziert er via Internet. Über sechs Strohmänner bei allen möglichen Wettbüros im In- und Ausland.

"Zocken ist harte Arbeit", sagt Günter Wenzel, "echt knallharte Maloche!" Und dann der psychische Druck: "Auf Dauer ungesund, geht mächtig auf die Pumpe." Wenn die edlen Vollblüter im Finish, Nüstern an Nüstern, über die Zielmarke preschen, gerät sein Blut in Wallung, und der Puls rast." Kein Wunder bei den Summen, die auf dem Spiel stehen. 50 000 Euro an einem großen Renntag sind bei Wenzel normal.

Natürlich heißt er nicht wirklich Günter Wenzel. Kein echter Name, kein Foto, keine allzu präzisen Details über sein System - er will keine Nachahmer, die zu Konkurrenten werden könnten. Schließlich bringt es der 46 Jahre alte Jurist, der seinen Beruf als Prokurist eines mittelständischen Unternehmens vor elf Jahren quittierte, eigenen Angaben zufolge auf 400 000 Euro im Jahr. Netto! Denn Steuern müssen auf Wettgewinne nicht entrichtet werden. In der Rennbahn-Szene gilt Günter Wenzel als Turfkönig.

Der Rheinländer mit dem Milchbubigesicht zählt zu jenem knappen Dutzend Deutscher, die von Pferderennen leben und professionell wetten. Den Glücksrittern und Hasardeuren an Roulettetischen im Kasino fühlt er sich meilenweit überlegen: "Die setzen auf Zahl und Glück, ich kombiniere gewinnbringend Erfahrung, Fachwissen, Hintergrundinformationen und mathematisches System."

Dabei spielen, so berichtet Wenzel bei einem Pappbecher Kaffee etwas abseits vom Sattelplatz inmitten des Horner Hippodroms, geheime Trainingseindrücke aus den Stallungen nur bei Spontanwetten eine Rolle. Den großen Gewinn bringe die Abwägung verschiedener Festquoten bei den Buchmachern. Das sind vorher fest vereinbarte Auszahlungshöhen im Siegfall - egal, wie es am Toto letztlich aussieht. Dort bestimmen, wie an den Aktienbörsen, Angebot und Nachfrage die "Odds" (Kurse). Wenn man die Einsätze geschickt platziert habe, stehe der finanzielle Sieg manchmal schon vor dem Start fest. Es sei denn, eine "ganz krumme Gurke", ein Riesenaußenseiter also, mache die Rechnung kaputt.

In 70 Prozent aller Rennen, und eben die gelte es herauszufinden, siege einer der Favoriten. Und dann klingelt bei Günter Wenzel die Kasse. So wie vor zwei Jahren, als ihm die Derby-Dreierwette 64 000 Euro in bar am Toto beschert habe. Plus 115 000 Euro, die auf Wettbüro-Konten flossen. "Solche Erfolgserlebnisse machen den Stress wett", sagt Wenzel.

Wenn die Rechnung aufgeht, packt er seine Sachen, eilt zum Bahnhof und nimmt den nächsten Zug heimwärts. Die Arbeit ist getan. Auf feuchtfröhliche Siegesfeiern im VIP-Zelt oder Schampusorgien in der Wetthalle verzichtet er grundsätzlich. Am liebsten ist es ihm, wenn er unerkannt bleibt.

Auch den anderen Kollegen Profiwettern ist jegliche Art von Öffentlichkeit suspekt. In der Zockerzunft bekannte Größen wie Volker Jerosch oder der "Hamburger Heinz" sind längst in der Versenkung verschwunden. Einer der wenigen Vollblutwetter, der sich outete, ist Franz Becker aus Köln. Im Turf-Fachdienst "Galopp intern" gab er als Gewinnmarge zehn Prozent an.

Bei drei Millionen Euro Jahresumsatz, was bezogen auf 250 Renntage hierzulande realistisch ist, bleiben 300 000 Euro Reingewinn. Für Becker einst Grund genug, seinen Beruf als Regierungsdirektor im Strafvollzug an den Nagel zu hängen.

Nicht nur wegen seiner früheren Beschäftigung im Staatsdienst plädiert Becker für einen sauberen Sport. Auch die anderen Profizocker fühlen sich als ehrbare Kaufleute, die clever eine Marktnische auf dem expandierenden Wettmarkt nutzen und hart arbeiten. Rennabsprachen, Doping und Wettmanipulationen sind ihnen ein Gräuel, weil sie System und Kalkulation über den Haufen werfen. Nur wenn alles in geordneten Bahnen läuft, stimmt die Rechnung unterm Strich.

Mit der Auffassung des früheren britischen Premiers Winston Churchill, wonach zwar nicht alle auf der Rennbahn Ganoven, aber alle Ganoven auf der Rennbahn seien, stimmen Wenzel & Co. ganz und gar nicht überein. Auch über den trickreichen Wett-Coup im Hollywoodstreifen "Der Clou" (siehe Text unten auf dieser Seite) kann die Gilde der Vollblutzocker nur im Kino lachen. Die Realität sieht weniger lustvoll aus.

Das weiß keiner besser als Thomas Kaufert (auch sein Name ist geändert). Einst Privatdozent an einer Universität, sattelte der Berliner vor einem Jahrzehnt um. Auch er scheut Trittbrettfahrer, gewährt dennoch einen Einblick in sein Geschäft.

"Es fußt auf intensiver Arbeit, in der Saison selten unter 14 Stunden pro Tag", verrät Kaufert. Grundlage seien mathematische Erkenntnisse, gesammelt in verlustreichen Zeiten am Rennbahn-Toto, die der promovierte Akademiker in einem Computerprogramm zusammenfasste.

Auch hier sind feste Quoten für startende Pferde die Grundlage. Sinken die Quoten plötzlich bei mehreren Wettbüros gleichzeitig erheblich, sei dies ein Indiz dafür, "dass etwas im Busche ist". In diesem Moment gelte es sich zu sputen - und einen Wettanbieter zu finden, der noch die besseren Wetten biete.

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Auch hier. "Ich stehe um 5.30 Uhr auf und sitze um Punkt sechs am Computer", sagt Thomas Kaufert. Signalisiert sein Programm größere Quoten-Differenzen, ist es Zeit zum Zuschlagen. Ebenso lukrativ sei eine andere Formel mit rechnerischer Gewinngewähr. Ähnlich wie bei Wenzels System werden unterschiedliche Wettangebote verglichen und die Einsätze so gestellt, dass am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas hängen bleibt. "Viel Kleinvieh macht auch Mist", so seine Devise. Selten liegen die Einsätze pro Starter über 3000 Euro.

Was das PC-Programm nicht schafft, erledigen fünf Studenten für ihn. Für 15 Euro pro Stunden hocken sie in ihren Apartments und sondieren den Wettmarkt. Via Internet bieten Hunderte Wettbüros in aller Herren Ländern ihre Dienste an, nicht selten in Regionen wie Bosnien-Herzegowina oder Gibraltar. Da wundert es kaum, dass Thomas Kaufert Außenstände in sechsstelliger Höhe hat. Mehr als 50 000 Euro davon, erstaunlich, aber wahr, bei einem staatlich konzessionierten Buchmacher in Österreich.

Dennoch gibt Kaufert an, im vergangenen Jahr bei einem Umsatz von knapp fünf Millionen Euro 465 000 Euro Gewinn gescheffelt zu haben. Wie die Buchhaltung belege.

Zu seinem Bedauern indes werde der Job immer schwerer. Wegen seiner permanenten Coups führen praktisch alle Buchmacher-Geschäfte und Internet-Wettanbieter Thomas Kaufert auf ihrer schwarzen Liste. Das bedeutet Wettverbot. Auch Anmeldungen mit getürkten Namen fliegen durch Vergleich der Kreditkartennummern oder Kontendaten rasch auf. Großteils wurde auf Fußballwetten umgesattelt, dort ist der Markt noch internationaler und unübersichtlicher.

Mit der Konsequenz, dass Thomas Kaufert ein Team von Strohmännern im Einsatz hat, die in seinem Auftrag zocken - und dafür zehn Prozent Provision bekommen. Mancher unsichere Kantonist ward nach einem fetten Deal nicht wieder gesehen. Mithin summieren sich auch hier private, allerdings kaum eintreibbare Forderungen auf 80 000 Euro.

Für das Deutsche Derby an diesem Sonntag in Hamburg-Horn, wegen der Pools in Millionenhöhe besonders geschätzt, ist Thomas Kaufert gewappnet. Seit Mittwoch ist er in der Hansestadt und wohnt in einer unauffälligen Pension in der Nähe des Mittelwegs. Die Rennbahn betritt der Berufswetter nur mit "Kleingeld". In seinem Fall sind das am Sonnabend 3000 und am Sonntag 5000 Euro.

Die größeren Wetten sind längst platziert. Gewinnen Persian Storm, Axxos oder Adlerflug das Derby, dann wird für ihn wahr, was sein "Kollege" Günter Wenzel eingangs formulierte: "Das Geld liegt auf der Rennbahn . . . "