Er war einer der wenigen ganz großen Sporthelden der Nation, löste einen Radsportboom aus. Dann der Skandal, jetzt der Rücktritt.

Hamburg. Als sich gestern Punkt elf Uhr eine Seitentür des Ballsaals II im Hotel InterContinental unweit der Außenalster öffnete, brach es los, das Blitzlichtgewitter. Nach fast acht Monaten Abstinenz meldete sich Jan Ullrich zurück im Rampenlicht. 15 Kamerateams, zwei Dutzend Fotografen und doppelt so viele Reporter hatte Ullrichs Ankündigung angelockt, sein langes Schweigen endlich brechen zu wollen. Wie geht es weiter mit einem der wenigen echten großen Sportstars, die dieses Land neben Franz Beckenbauer, Boris Becker oder Michael Schumacher je hatte? Diese Frage beschäftigte seit Wochen Radfans, Funktionäre und Medien gleichermaßen.

Beantwortet hat Jan Ullrich sie in einem Redeschwall von geschlagenen 45 Minuten. Er hatte sich offenbar viel von der Seele zu reden, dieser 33-Jährige, dem öffentliche Auftritte jenseits der Radpisten zuvor eher ein Gräuel gewesen waren. Doch nun wirkte er irgendwie enthemmt, fast befreit. Den wesentlichsten Satz sagte Ullrich punkt 11.25 Uhr mit einem Lächeln im Gesicht: "Ich möchte hiermit offiziell bekannt geben, dass ich dem Radsport erhalten bleibe - aber nicht mehr als aktiver Radprofi."

3501 Tage nach seinem größten Triumph, dem Sieg bei der Tour de France im Juli 1997, und 241 Tage nach seiner größten Niederlage, der Suspendierung von seinem T-Mobile-Team im Zuge der spanischen Dopingaffäre, war die beispiellose Karriere des Jan Ullrich beendet.

Zur Verkündung des scheinbar Unvermeidlichen hatte er nicht nur seine Ehefrau Sara Steinhauser und Manager Wolfgang Strohband um sich geschart. Auch seine Brüder Stefan und Thomas, sein Entdecker Peter Sager und sein langjähriger Berliner Trainer Peter Becker, der extra aus Mallorca kam, saßen beim Schlussakt in der ersten Reihe.

Strohband, Ullrichs langjähriger Berater und väterlicher Freund, hatte lange versucht, seinem Schützling den Rücktritt auszureden. "Ich war am Anfang gegen die Entscheidung, habe dann aber eingesehen, dass es keinen Sinn macht."

Denn mit der Suspendierung durch T-Mobile, einen Tag vor dem Start der Tour de France 2006 in Straßburg, ist für Jan Ullrich nach eigenem Bekunden eine Welt zusammengebrochen: "Ab diesem Moment war nichts mehr, wie es vorher war." Den Schock habe er bis heute nicht verkraftet. Anschließend sei er "Weltrekorde" im heimischen Swimmingpool am Bodensee geschwommen, ohne den "schwärzesten Tag" seiner Karriere verwinden zu können.

Der Olympiasieger von Sydney 2000 fühlt sich noch immer als Opfer einer Überreaktion seiner Teamchefs und einer Vorverurteilung, "die es so in einem Rechtsstaat nicht geben sollte". Er habe sich absolut nichts vorzuwerfen: "Ich habe keinen betrogen, keinen geschädigt." Trotzdem komme er sich vor wie ein "Schwerverbrecher".

Dann war es mit der Zurückhaltung vorbei. Die folgenden Minuten wurden zu einer bitteren Abrechnung mit dem Radweltverband UCI, dem Schweizer Verband Swiss Cycling. Aber auch mit Dopingjäger Werner Franke und Rudolf Scharping, dem Präsidenten des Bundes Deutscher Radfahrer, die sich auf seine Kosten profiliert hätten.

Während der Weltverband die "Drecksarbeit gern auf die Landesverbände" abschiebe, würden die Schweizer Funktionäre seit acht Monaten den Eindruck erwecken, im Besitz ihn belastender Dokumente zu sein. Dennoch sei er nicht einmal angehört oder zu einer Stellungnahme aufgefordert worden. "Ich habe das Vertrauen in die Verbände verloren, da ist so viel Scheiße gelaufen", entrüstet sich Ullrich.

Vom besten Kumpel zum größten Intimfeind ist offenkundig Rudolf Scharping mutiert. Er sei einer der größten Schulterklopfer gewesen und habe Ullrichs Popularität für sich genutzt. Doch dann sei dieser Mann "vom Verteidigungsminister zum Radsportpräsidenten abgestiegen" und habe sich seit zwei Jahren nicht mehr blicken lassen. "Sie sind auf den Zug Radsport raufgesprungen, als er richtig gut und schnell unterwegs war. Doch diese Leute ohne echte Leidenschaft für diesen Sport sind auch die ersten, die das sinkende Schiff wieder verlassen werden", erklärte Ullrich.

Die ganze Situation hat für den gestrauchelten Hero unterdessen auch etwas Gutes. Er habe erkannt, wo der Rattenschwanz sei und könne diesen nun abschneiden. Überdies wisse er nun ziemlich genau, was ihn wirklich glücklich mache. Den letzten Anstoß hätte ihm Tochter Sarah kurz vor Weihnachten gegeben. Da habe sich der "laufende halbe Meter" vor ihm aufgebaut und mehr Zeit für sich gefordert.

Doch da Ullrich ganz ohne Radsport doch nicht leben kann, schließt er sich jetzt dem zweitklassigen österreichischen Team Volksbank an, für das er als "Berater, Werbeträger, Repräsentant und in der Jugendförderung" tätig werden will.

"Ich hätte sofort wieder eine Lizenz bekommen können und hatte sieben Angebote als Fahrer, auch von ProTour-Teams", äußerte Jan Ullrich beinahe trotzig. Letztlich habe er dann aber auf seine innere Stimme gehört. Und die sagte ihm: "Es ist vorbei." So schloss sich gestern für Ullrich eben dort der Kreis, wo vor 15 Jahren sein Triumphzug im schmalen Rennsattel begonnen hatte - in Hamburg. Hier ist er nach seinem Umzug von Ost-Berlin für Strohbands RG Hamburg gefahren, hat seinen ersten Profivertrag beim Team Telekom unterschrieben.

Dass der trotzige Junge aus Rostock durch seinen Toursieg 1997, den Olympiasieg 2000 oder die grandiosen Duelle mit dem schier übermächtigen Lance Armstrong den Radsportboom in Deutschland erst lostrat, dieses Verdienst kann ihm niemand mehr nehmen. Doch seine Karriere war stets auch geprägt von selbstverschuldeten Tiefschlägen und bitteren Niederlagen, wie der ersten Dopingsperre 2002 nach dem Konsum von Ecstasy-Pillen. So begleitet nun auch Ullrichs Rücktritt ein bitterer Beigeschmack. Noch immer ist seine mögliche Verwicklung in den spanischen Dopingskandal nicht aufgeklärt. Und es besteht die große Gefahr, dass er von den Schatten seiner Vergangenheit früher oder später eingeholt werden könnte.

Unter www.abendblatt.de/go/ullrich gibt es einen 8:30 Minuten langen Videomitschnitt der Ullrich-Erklärung.

"Ich möchte hiermit offiziell bekannt geben, dass ich dem Radsport erhalten bleibe - aber nicht mehr als aktiver Radprofi." Jan Ullrich

1996

Beim Tour-de-France-Debüt schafft Jan Ullrich einen sensationellen zweiten Platz hinter seinem dänischen Teamkapitän Bjarne Riis. Ein Jahr zuvor hatte Ullrich seinen ersten Profivertrag beim Telekom-Rennstall unterschrieben. Schon damals war er nicht nur Radsport-Insidern bekannt. Mit 19 Jahren war er 1993 in Oslo zum jüngsten Amateur-Weltmeister aller Zeiten gekürt worden.

1997

Auf der Etappe nach Andorra stürmt Ullrich ins Gelbe Trikot und wird wenige Tage später erster deutscher Tour-Sieger - sein größter Triumph. Zum Jahres-Abschluss wird er zudem Deutschlands "Sportler des Jahres".

1998

Ullrich erobert erneut das Gelbe Trikot bei der Frankreich-Rundfahrt, verliert die Tour aber nach einem "Hungerast" am Col du Galibier gegen den Italiener Marco Pantani und wird schließlich Zweiter. In seinem Wohnort Merdingen wird eine Straße nach dem Radsport-Idol benannt.

1999

Nach einem schweren Sturz bei der Deutschland-Tour muss Ullrich seinen Tourstart absagen. Im September gewinnt er die Spanien-Rundfahrt und wird Weltmeister im Zeitfahren.

2000

Ullrich muss sich bei der Tour dem übermächtigen US-Amerikaner Lance Armstrong geschlagen geben, wird dann aber in Sydney Olympiasieger im Straßenrennen und holt Silber im Zeitfahren. Im August ist er für kurze Zeit Weltranglistenerster.

2001

Bei der Tour muss sich Ullrich erneut Armstrong beugen, wird er zum vierten Mal Zweiter. Im Oktober holt er sich in Lissabon zum zweiten Mal Gold als Zeitfahr-Weltmeister.

2002

Tour-Absage wegen Knie-Problemen. Am 1. Mai begeht Ullrich Fahrerflucht, nachdem er unter Alkoholeinfluss in Freiburg einen Autounfall verursacht hat. Ende des Monats folgt die erste Knie-Operation. In der anschließenden Rehabilitation wird er am 12. Juni positiv auf Amphetamine getestet, bekommt eine sechsmonatige Sperre und die Vertragskündigung durch das Team Telekom.

2003

Ullrich startet nun für das Team Coast und gewinnt am 21. April bei "Rund um Köln" sein erstes Rennen seit Oktober 2001. Nach Lizenz-Problemen seines Arbeitgebers wechselt er zum Team Bianchi. Beflügelt von der Geburt seiner Tochter Sarah Maria wird er im Juli zum fünften Mal Tour-Zweiter und bringt Armstrong bei nur 61 Sekunden Rückstand an den Rand einer Niederlage. Am Saisonende verlässt er Bianchi und schließt sich erneut dem Bonner Rennstall, inzwischen T-Mobile, an.

2004

Die Saison-Vorbereitung verläuft wieder mit Schwierigkeiten. Den Klassiker Flèèche Wallonne im April bricht er ab. Ullrich fängt sich rechtzeitig und gewinnt in der Tour-Vorbereitung erstmals die Tour de Suisse. Bei der Tour selbst kommt er als Vierter zum ersten Mal nicht auf das Podium in Paris. Im Dezember erkrankt er an einer Lungenentzündung.

2005

Ein schwerer Infekt im Februar zwingt Ullrich, den Saisonstart zu verlegen. Danach läuft seine Vorbereitung reibungslos. Paris erreicht er diesmal als Gesamtdritter. Trotz der gemeinsamen Tochter geht die Beziehung mit seiner langjährigen Freundin Gaby Weiss in die Brüche, weil er sein Herz an die Schwester seines besten Freundes Tobias Steinhauser verliert.

2006

Früher Trainingsstart, aber wieder gesundheitliche Rückschläge. Knieprobleme verzögern den Saisoneinstieg. Der Giro d'Italia, den er zwei Tage vor Ende mit Rückenproblemen beendet, ist sein zweites Saisonrennen. Die Tour de Suisse dient wieder als Generalprobe für Frankreich. Er siegt in der Schweiz zum zweiten Mal.

Am 30. Juni, einen Tag vor dem Tour-Prolog, werden Ullrich, Teamkollege Oscar Sevilla (Spanien) und Betreuer Rudy Pevenage vom T-Mobile-Team wegen Doping-Verdachts suspendiert. Ullrich leugnet jede Schuld. Am 21. Juli erhält er die fristlose Kündigung von T-Mobile. Die Staatsanwaltschaft Bonn ermittelt wegen Betrugs-Verdachtes, die in Hamburg wegen Falschaussage. An seinem Wohnort droht ein Sportgerichts-Verfahren des Schweizer Radsport-Verbandes. Auch das private Glück - Ullrich heiratet Sara Steinhauser - kann diese Vorgänge nur bedingt überspielen.

2007

Ullrich wird im Januar mit mehreren Teams in Verbindung gebracht und nährt durch entsprechende Erklärungen die Hoffnung seiner Fans auf ein Comeback. Am 26. Februar erklärt Ullrich in Hamburg seinen Rücktritt vom aktiven Radsport.