Wenn Rot-Grün am 20. Januar die Landtagswahl gewinnen sollte, träte eine Koalition an, die kaum Regierungserfahrung hat.

Hannover. Wenn in diesen Tagen Mitarbeiter der niedersächsischen Landesverwaltung in der Dienstzeit Parteiprogramme im Internet lesen, ist das keine Pflichtvergessenheit. Es kann nämlich gut sein, dass sie das neu erworbene Wissen über die Positionen von SPD und Grünen bereits in wenigen Wochen dienstlich anwenden und umsetzen müssen. Rot-Grün liegt derzeit in den Umfragen vorn - und wenn sich das bei der Landtagswahl am 20. Januar bestätigt, dann hängt die Umsetzung der neuen Politik daran, dass die Ministerialbürokratie loyal und schnell umsetzt, was auf Parteitagen formuliert worden ist.

Und genau darauf wird eine neue Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Stephan Weil dringend angewiesen sein. Zehn Jahre ist es her, dass die SPD als Regierungspartei abgelöst wurde, und entsprechend viel Zeit hatten CDU und FDP, die Spitzenposten innerhalb der Verwaltung mit ihren eigenen Parteigängern zu besetzen. Aber nur drei wichtige Positionen sind mit politischen Beamten besetzt, die sofort in den Ruhestand geschickt werden können: der Präsident des Verfassungsschutzes, der Polizeipräsident und der Sprecher der Landesregierung. Alle anderen Positionen sind auf Lebenszeit vergeben - also bis zur Pensionierung.

Noch ein beachtliches Handicap für eine rot-grüne Landesregierung: Im Schattenkabinett findet sich mit dem 64-jährigen Peter-Jürgen Schneider als Kandidat für das Amt des Finanzministers nur noch ein Politiker, der als damaliger Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei bis 2003 unter dem Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel administrative Erfahrung aufzuweisen hat an der Nahtstelle zwischen Politik und Bürokratie. Die letzten Minister aus der Regierungszeit vor 2003 wie Wolfgang Jüttner (Umwelt), Heiner Bartling (Innen) und Heiner Aller (Finanzen) werden dem neuen Landtag nicht angehören.

Bei den Grünen, die nur von 1990 bis 1994 am Kabinettstisch des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder gesessen haben, ist die Situation noch eindeutiger: Keiner aus der Führungsriege hat auch nur einen Hauch von Regierungserfahrung.

Wenn neue Minister in ihren Ressorts einziehen, dann dokumentiert sich dieser Wechsel erst einmal lediglich in den vier Personen Staatssekretär, Büroleiter, Persönlicher Referent und Pressereferent - nicht eben viel, um die großen Apparate der Ministerien in den Griff zu bekommen.

Es hängt also für die neue Landesregierung viel daran, wie loyal sich die Spitzenbeamten verhalten, ob sie bereit und in der Lage sind, sich anderen Argumenten zu öffnen und auch dramatische Kurswechsel mitzumachen. Die Fachleute im Kultusministerium etwa, die bislang die Gesamtschulen möglichst klein gehalten haben, müssten quasi über Nacht ihr Herz für diese Schulform entdecken und sie nach besten Kräften fördern.

Problematisch dürfte der Kurswechsel auch im Landwirtschaftsministerium werden. Hier hat es traditionell immer eine große Nähe zur bäuerlichen Klientel gegeben. Oft war da so etwas wie Stolz zu spüren, dass die niedersächsischen Bauern an der Spitze marschieren - etwa bei der Massentierhaltung mit ihrer großen Wertschöpfung. Dort würde ein ziemlich radikaler Wechsel anstehen.

Ebenso im Umweltministerium, wo als Minister der Grüne Stefan Wenzel einziehen würde. Er wird es dort mit Beamten der Atomabteilung zu tun bekommen, die zehn Jahre lang mit ihrer Expertise den Pro-Atom-Kurs seiner FDP-Vorgänger unterfüttert haben.

Vor 2003 hat die damals mit absoluter Mehrheit regierende SPD versucht, das Establishment in den Ministerien aufzubrechen. Eingeführt wurde die Einsetzung von Abteilungsleitern auf Zeit. "Damit haben wir uns mit Verlaub ins Knie geschossen", kommentiert dies im Rückblick der damalige SPD-Innenminister Heiner Bartling. CDU und FDP nutzten das Instrument nach ihrem Wahlsieg, um ungeliebte Abteilungsleiter loszuwerden. Danach kippte das Bundesverfassungsgericht diese Möglichkeit; das deutliche Übergewicht von Abteilungsleitern aus dem bürgerlichen Lager ist damit weit über den Wahltag 20. Januar hinaus zementiert. Zumal in den vergangenen Monaten in allen Ministerien durch Beförderungen noch einmal Fakten geschaffen wurden.

Im Gespräch mit dem Abendblatt geht der frühere SPD-Innenminister Bartling (bis 2003) vor allem mit seinem christdemokratischen Nachfolger Uwe Schünemann hart ins Gericht. "Im Ministerium sitzen dank Schünemanns parteipolitisch orientierter Beförderungspolitik inzwischen nicht immer die Qualifiziertesten in Spitzenpositionen, das wird für den neuen Innenminister eine schwierige Aufgabe." Schünemann habe zudem im Verwaltungsapparat anhaltenden Frust erzeugt, indem er seine eigenen Leute bei Beförderungen bevorzugt habe: "Es ging in den vergangenen Jahren nicht mehr gerecht zu, es wurde nicht mehr nach Befähigung entschieden."

Für Schünemann geht übrigens am heutigen Dienstag ein Traum in Erfüllung: Er übernimmt den Vorsitz der Innenministerkonferenz. Dafür hat die Bürokratie diverse Papiere erarbeitet, die seinen Anspruch unterstreichen sollen, als dienstältester CDU-Innenminister der Republik Trends zu setzen. Kommt es aber am 20. Januar zum Machtwechsel, werden die Fachleute im Ministerium umgehend ganz neue und zumeist genau entgegengesetzte Argumentationspapiere schreiben müssen. Osnabrücks SPD-Oberbürgermeister Boris Pistorius ist SPD-Kandidat für das Ressort und steht für eine deutlich liberale Flüchtlingspolitik.