Nur noch gut hundert Brutpaare dieser Adlerart leben in Deutschland, vor allem in Brandenburg. Naturschützer entnehmen einzelnen Horsten Eier oder todgeweihte Küken und päppeln sie auf.

Das zerschossene Bein heilte einfach nicht. Wegen der schmerzhaften Hinterlassenschaft eines Fluges nach Süden musste der arme Sigmar im Dezember 2007 sterben. Trotz Intensivpflege mussten Tierärzte Brandenburgs berühmtesten Schreiadler einschläfern - kein Pappenstiel bei einer in Deutschland stark gefährdeten Tierart, die Artenschützer der Deutschen Wildtier-Stiftung (DewiSt) mit viel Aufwand vor dem Aussterben retten wollen. Denn der deutsche Bestand der Adler ist auf gut 100 Brutpaare geschrumpft.

Vogeljäger hatten Sigmar im September 2007 bei seinem Langstreckenflug ins südliche Afrika über Malta angeschossen. Mit einer Spannweite von bis zu 160 Zentimetern gibt leider auch der kleinste in Deutschland lebende Adler ein gutes Ziel ab. Vor allem im Nahen Osten, Nordägypten und in Südosteuropa wird auf den Greifvogel angelegt. Den Jägern gehe es um "Greifvogel-Trophäen als Beweise von Manneskraft", sagt Margit Meergans von der DeWiSt in Hamburg.

Sie leitet ein Programm zur Rettung des Schreiadlers, unterstützt von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und dem Bundesamt für Naturschutz. Es setzt beim sogenannten "Kainismus" der Schreiadler an: Aus noch ungeklärten Ursachen schlüpfen aus den meist zwei Eiern in einem Gelege Geschwistervögel, von denen einer sich zum Kain, der andere zum Abel mausert. Der zuerst ausgeschlüpfte Jungvogel wächst schneller heran und piesackt sein jüngeres Geschwister von Anfang an. Er pickt den Zweitgeborenen blutig, woraufhin dieser kaum noch nach Futter bettelt und von den Altvögeln links liegen gelassen wird. Am Ende stirbt der vernachlässigte Jungvogel unter den Schnabelattacken seines dominanten Geschwisters oder wird von diesem aus dem Horst geworfen.

Angesichts des bedrohten deutschen Schreiadler-Bestandes ist der Geschwistermord für Vogelschützer unerträglich. Deshalb versucht die DeWiSt gemeinsam mit dem brandenburgischen Landesumweltamt seit vergangenem Jahr, todgeweihte Spätschlüpfer rechtzeitig aus dem Nest zu entfernen, sie aufzupäppeln und erst dann wieder in einen Schreiadler-Horst zu setzen, wenn nach vier bis sechs Wochen der Aggressionstrieb des älteren Geschwisters erloschen ist. Etwa zu dieser Zeit verlieren die Jungvögel ihr weißes Jugend-Federkleid.

Die schützende Entnahme funktioniert nur, weil das Schreiadler-Weibchen auch fremde Junge annimmt und großzieht. Denn die 15 bis 20 Schreiadler-Küken, die jährlich Horsten entnommen und in der brandenburgischen Naturschutzstation Woblitz aufgezogen werden sollen, stammen zum Teil aus dem fernen Lettland. Dort geht es den Adlern noch besser, und Artenschützer wissen sehr gut Bescheid, wo die Greifvögel brüten. Zehn Jungvögel soll Lettland künftig pro Jahr liefern. Bevor sie zur Weiterpflege nach Brandenburg geflogen werden, päppeln Fachleute im Zoo von Riga die Küken eine Weile auf.

Ohne die kenntnisreiche Hilfe der Letten stünde das Projekt unter keinem guten Stern. "Es ist in den belaubten Horstbäumen sehr schwierig, die Horste zu finden und zu erklettern", sagt Margit Meergans - und zwar rechtzeitig, bevor das erstgeborene Küken das zweite sozusagen ausgeschaltet hat. Hinzu komme, "dass in deutschen Horsten "die meisten Brutpaare nur noch ein Ei legen".

Was früher eine Ausnahme gewesen sei, habe "extrem zugenommen". Warum, kann auch Meergans nur vermuten: wahrscheinlich wegen einer "starken Störung des Lebensraums". Und sie ergänzt: "Langfristig würde das Jungvogel-Management keinen Sinn machen, wenn die Tiere danach keine passenden Lebensräume finden."

Deshalb schafft die DeWiSt an sechs geheim gehaltenen Stellen in Nordostdeutschland mögliche Schreiadler-Brutbiotope, zum Beispiel Erlenbruch- und Buchenwälder mit angrenzenden Wiesen. Diese sind etwa einen Quadratkilometer groß. Die Eigentümer, meist Landwirte, erhalten eine Entschädigung für die auferlegten Nutzungseinschränkungen oder das totale Nutzungsverbot.

Schon eine Handvoll erfolgreich aufwachsende und später selbst brütende Schreiadler pro Jahr könnten die deutschen Bestände wenigstens stabil halten. Es müssen also nicht alle 15 bis 20 aus den Nestern entnommene Küken durchkommen. Das werden sie ohnehin nicht, denn: "Das größte Risiko für die Schreiadler ist der Abschuss auf den Zugrouten", bedauert Margit Meergans. Dem kulturell tief verankerten Bejagen von Greifvögeln sei schwer beizukommen.

Viel bewirken könnte ein strengerer Schutz nach der Bonner Konvention, dem internationalen Übereinkommen zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten (CMS). Dazu müsste die Tierart vom Anhang II in den Anhang I hochgestuft werden. "Alle Unterzeichner-Staaten der Konvention wären dann automatisch zu seinem Schutz verpflichtet", erklärt Meergans.

Die bisherigen Erfahrungen mit dem Jungvogel-Management stimmen die Artenschützer hoffnungsvoll. Von den zehn vergangenes Jahr in Horste eingebrachten Jungadlern haben zunächst alle überlebt. Sechs junge Schreiadler konnten mit etwa 4000 Euro teuren Sendern ausgerüstet werden, um ihre weiteren Geschicke zu verfolgen, gerade während des Zugs. Die anderen vier erhielten aus Kostengründen nur Ringe.

Inzwischen sind allerdings mindestens vier der sechs mit Sendern versehenen Adler abgeschossen worden. "Wenn sich die Position des Senders nicht mehr verändert und die übermittelte Flughöhe seit längerem null ist, dann kann man sich schon denken, was passiert ist", sagt Meergans. Ihren letzten "Tjück"-Schrei, dem die Adler ihren Namen verdanken, haben diese Vögel jedenfalls hinter sich. Mit etwas Glück werden die Schreie ihrer Artgenossen dennoch auch künftig über Deutschland zu hören sein. www.wildtierstiftung.de