Erstmals wurden in Hamburg bei einem Kind Nervenfasern gezielt durchtrennt, um die Spastik zu beseitigen.

Mit einem breiten Grinsen sitzt der kleine Kai auf seinem Bett. Mit den Händen stützt er sich noch vorsichtig ab. Gut zwei Wochen ist es her, dass er im Altonaer Kinderkrankenhaus operiert wurde. Der Neurochirurg Dr. Philip Kunkel nahm bei dem sechs Jahre alten Jungen einen Eingriff vor, der ihn von der spastischen Lähmung befreien soll, unter der er seit seiner Geburt gelitten hat. Die Behinderung zeigte sich bei ihm hauptsächlich an den Beinen. Sie waren beim Gehen nach innen gedreht, die Füße in Streckstellung, sodass er sie nicht richtig abrollen konnte. Kai ist das erste Kind in Hamburg, das nach dieser neuen Methode operiert wurde. Erst zwei Monate ist es her, dass diese Operation erstmals in Deutschland an der Berliner Charite durchgeführt wurde.

Diese sogenannte selektive dorsale Rhizotomie ist eine Operationsmethode, bei der Nervenfasern gezielt ausgeschaltet werden. Die Nerven, die vom Rückenmark aus in den Körper ziehen, entspringen aus dem Rückenmark mit einer Vorder- und einer Hinterwurzel. Über die Hinterwurzel leiten Nervenfasern Reize aus dem Körper an Rückenmark und Gehirn weiter. Diese Reize werden direkt im Rückenmark verarbeitet und führen über die motorischen Fasern in der Vorderwurzel zu einer Muskelkontraktion. Bei Menschen mit einer spastischen Lähmung sind diese Reflexe gesteigert. Die erhöhte Muskelanspannung wird an das Rückenmark zurückgemeldet und führt zum erneuten Auslösen des Reflexbogens. Es entsteht ein Teufelskreis, der zur Spastik führt.

An diesem Reflexbogen setzt die neue Operationsmethode an: Die Nervenfasern in der Hinterwurzel der Nerven, die die Muskelanspannung an das Rückenmark zurückmelden, werden durchtrennt. Damit wird der Teufelskreis unterbrochen, der die Spastik auslöst. Um das zu erreichen, wird in der Operation ein Teil der Nervenfasern der Hinterwurzeln gekappt. Um gesunde Funktionen der Nerven zu erhalten, werden nur die Nervenfasern durchtrennt, die spastische Impulse weiterleiten. Welche das sind, wird mithilfe von elektrischen Messungen festgestellt. "Bei Kai haben wir in einer achtstündigen Operation 250 Nervenfasern getestet und ein Viertel davon durchtrennt", erzählt Kunkel. Ziel dieser Methode ist es, die Spastik in den Beinen zu beseitigen und damit seine Gehfähigkeit zu verbessern.

"Quälend für diese Kinder ist, dass sie anders sind als andere Kinder", sagt Kunkel. Unter Gleichaltrigen haben sie häufig keinen leichten Stand. "Aber Kai ist ein kleines Stehaufmännchen. Trotz seiner Gehbehinderung hat er immer alle Spiele mitgemacht, konnte aber wegen seiner Spastik mit den anderen Kindern nicht so richtig mithalten. Aber er hat einen ungeheuren Willen. Beim Fahrradfahrenlernen ist er unzählige Male gestürzt, hat aber nicht aufgegeben, bis er es konnte", berichtet seine Mutter Sabine Skibbe (47). Als Ursache für seine Spastik wird ein Sauerstoffmangel bei oder vor der Geburt angenommen.

Jetzt nach der Operation ist die Spastik aus Kais Beinen verschwunden. "Aber das Laufen muss er erst wieder neu erlernen. Denn sein Gehirn muss die Bewegungsabläufe neu koordinieren, weil er seine Muskeln anders bewegen muss, wenn sie eine normale Spannung haben und keine Spastik", erklärt Kunkel. Das braucht Zeit und viel Geduld. Jetzt zwei Wochen nach der Operation kann Kai bereits stehen und mit Hilfe die ersten kleinen Schritte gehen. Drei bis vier Wochen muss er noch in der Klinik bleiben und dort ein intensives Reha-Programm absolvieren, "Bei der Entlassung wird er dann gehen können. Aber erst ein bis zwei Jahre nach der Operation kann man endgültig beurteilen, wie erfolgreich der Eingriff war", sagt Kunkel, der diese Methode am Gillete Children's Hospital im amerikanischen Minneapolis gelernt hat. Dort wird diese Operation bereits seit 15 Jahren bei spastischen Kindern durchgeführt, sodass dort bereits Langzeitergebnisse für dieses Verfahren vorliegen. "Nach den Erfahrungen der amerikanischen Kollegen gibt es eine Menge Kinder, bei denen sich das Gangbild normalisiert hat", sagt der Neurochirurg, der in den kommenden drei Monaten weitere drei Kinder mit dieser neuen Methode operieren will.

Behandelt werden können damit Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren, bei denen hauptsächlich die Beine betroffen sind und die Spastik durch eine frühkindliche Hirnschädigung bedingt ist.

Für Kinder, die schon viele orthopädische Korrektureingriffe hinter sich haben oder an einer Erkrankung leiden, die mit einer fortschreitenden spastischen Lähmung verbunden ist, kommt diese Operation nicht in Frage.