Durch eine spastische Lähmung konnte der Junge kaum gehen. Aus dem Abendblatt erfuhr seine Mutter von einer neuen Operationsmethode.

Hamburg. Jonah Köhlmann kennt sich hier aus. Zielstrebig läuft der Achtjährige durch die Gänge des Altonaer Kinderkrankenhauses, auf dem Weg zu einer Routinenachuntersuchung bei Dr. Philip Kunkel. Bis der Neurochirurg ihn im Dezember 2008 operiert hat, konnte Jonah kaum laufen. Er litt an einer Lähmung, der "Spastischen Diplegie": Beim Gehen waren seine Beine nach innen gedreht, die Füße in Streckstellung, sodass er sie nicht richtig abrollen konnte.

Hätte seine Mutter nicht 2007 durch einen Zeitungsartikel im Hamburger Abendblatt von Dr. Kunkel und seiner Operationstechnik erfahren, könnte Jonah heute nicht mit Freunden herumtollen oder das tun, was so lange sein großer Traum war: Fahrradfahren. Doch so konnte Philip Kunkel dem Jungen mit einem in Deutschland noch selten angewendeten Operationsverfahren ein deutlich besseres Gehen ermöglichen. Die sogenannte "selektive dorsale Rhizotomie" (SDR) ist eine Operationsmethode, bei der bestimmte Nervenfasern gezielt ausgeschaltet werden. Diese "sensiblen" Nervenfasern verlaufen zwischen Muskeln und Sehnen einerseits und dem Rückenmark andererseits.

Bei Menschen ohne Spastik verhindern sie, dass ein eigentlich sinnvoller Reflex - wie etwa der Kniescheibenreflex - nicht dauerhaft abläuft. Bei Spastikern wie Jonah wurden die hemmenden Nervenbahnen auf ihrem Weg entweder im Gehirn oder im Rückenmark meist durch Sauerstoffmangel während der Geburt irreparabel unterbrochen. Mit der Folge, dass sich die Muskeln in einer dauerhaften Kontraktion befinden, die ständig weiter aufrecht gehalten wird. "Ein Teufelskreis", sagt Philip Kunkel.

Bei der selektiven dorsalen Rhizotomie wird mit einem etwa fünf Zentimeter langen Schnitt im unteren Wirbelsäulenbereich die Dura mater, die gemeinsame Hülle von Nervenwurzeln und Rückenmark, zunächst freigelegt und dann geöffnet. In einer mehrstündigen Operation werden dann mehr als 100 Nervenfasern mit elektrischen Messungen getestet. Diejenigen, die spastische Impulse an das Rückenmark zurückmelden, werden durchtrennt.

Etwa 7000 Kinder und Jugendliche, deren Beine wie die von Jonah durch eine spastische Diplegie gelähmt sind, leben zurzeit in Deutschland. Obwohl das SDR-Verfahren in den USA bereits seit 30 Jahren angewendet wird, kommt es bei uns erst seit 2006 zum Einsatz - und das nur an der Berliner Charité, im Altonaer Kinderkrankenhaus und neuerdings am Universitätsklinikum Tübingen.

Dass bundesweit pro Jahr insgesamt nur etwa 50 Patienten durch die SDR behandelt werden, liegt zum einen daran, dass das Verfahren nach wie vor ziemlich unbekannt ist, zum anderen aber auch an dem engen Zeitfenster, in dem es überhaupt möglich ist: Optimalerweise sind die Patienten zwischen vier und acht Jahre alt. "Vorher sind die Kinder für das strikte Reha-Programm zu klein", sagt Philip Kunkel. "Später nimmt die Neuroplastizität ab, das ist die Fähigkeit des Gehirns, auf neue Bewegungsmuster umzuprogrammieren."

Durch eine Spastik werden die Beine nicht nur steif - sie bleiben auch schwach. Weil die Mobilisierung und Wiedererlangung der einzelnen Funktionen eine besondere Herausforderung für Eltern, Ärzte und Therapeuten ist, entstand am Altonaer Kinderkrankenhaus - einzigartig in Deutschland - eine Rehabilitationsstation, die sich ganz auf neuroorthopädische und postoperative Reha spezialisiert hat. Hier werden die kleinen Patienten quasi unter den Augen ihres Operateurs behandelt. So sind enge Absprachen bezüglich des Behandlungsaufbaus möglich, außerdem können eventuell auftretende Schmerzen während der Reha durch den Operateur angemessen bewertet und behandelt werden.

Auch Jonah musste nach der Operation wieder bei null anfangen und das Laufen mühsam erlernen. Nach ersten Tagen strenger Bettruhe ging es mit Krankengymnastik und vorsichtigen Bewegungsübungen los. Schwerpunkt war das Erlernen richtiger Sitz- und Standpositionen sowie korrekter Bewegungsabläufe - insbesondere beim Wechsel vom Liegen über das Sitzen in den Stand. Später wurden die eigenständigen Bewegungsabläufe weiterentwickelt, und Jonah bewältigte so manche Herausforderung: krabbelte, kletterte auf eine Bank, und fuhr sogar auf einem speziellen Fahrrad - seine Beine stets mit Orthesen gefestigt.

Die ersten Schritte machte der Junge auf einem Gangtrainer. Angegurtet stand er auf zwei Fußplatten, deren Bewegung das natürliche Gehen simulierte. Dann kam das aktive Laufbandtraining. Jonah hing in einem an der Decke befestigten Fallschirmgurt, der einen Teil seines Körpergewichts übernahm und ihn so sicherte, dass er nicht stürzen konnte. "Eigentlich war es ein bisschen langweilig", fasst Jonah sein Therapieprogramm zusammen. Viel lieber erinnert er sich an den Freund, den er auf der Reha-Station gefunden hat. "Wir haben zusammen Tischkicker gespielt oder eine DVD geguckt."

Auch nach der Entlassung musste Jonah trainieren - unterstützt von Krankengymnastin und Eltern. Mittlerweile ist er sehr beweglich geworden, sein Gang harmonischer, die Schritte länger. In der Schule kann er beim Sportunterricht mitmachen, nach der Schule mit seinen Kumpels kicken.

"Eines unserer Hauptziele ist, die Kinder mithilfe der selektiven dorsalen Rhizotomie aus ihrer Außenseiterposition zu holen", sagt Philip Kunkel. Zwar musste Jonah die erste Klasse wiederholen - zu viel hatte er durch Klinikaufenthalt und Reha verpasst. Doch jetzt, in der zweiten Klasse, zählt zu seinen Lieblingsfächern außer Musik und Mathe auch Sport.