Das ATV ist das komplizierteste Raumfahrzeug, das bisher auf dem Alten Kontinent gebaut wurde - und ein Zeichen dafür, dass sich die Europäer in der Weltraumfahrt emanzipiert haben.

Hamburg. Wenn Jules Verne Mitte Juli über den Atlantik Kurs auf Südamerika nimmt, ist nicht etwa ein längst verstorbener Science-Fiction-Autor auf dem Weg ins Guinnessbuch der Rekorde, sondern eine Art Weltraum-Lastwagen per Schiff unterwegs zu seinem Jungfernflug. "Jules Verne", so heißt nämlich der Prototyp eines vollautomatischen Raumschiffes, mit dem die Europäische Raumfahrtorganisation Esa Lebensmittel, Kleidung, Wasser, Sauerstoff und Sprit zur internationalen Raumstation ISS bringen will. Automated Transfer Vehicle oder kurz ATV nennt die Esa diesen Transporter.

Er ist nicht nur ihr mit Abstand kompliziertestes Raumfahrzeug, sondern auch ein Stück europäische Emanzipation im Weltraum: Zum ersten Mal fliegt Europa selbstständig zur ISS. Deshalb erhielt dieser Prototyp auch den Namen des weltbekannten französischen Science-Fiction-Autors Jules Verne (u. a. "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde", "In 80 Tagen um die Welt").

Die Einzelteile des Hightech-Geräts stammen aus Europa, Russland und den USA. Im Technologiezentrum ESTEC in Noordwijk (Niederlande) der europäischen Weltraumorganisation Esa hat es soeben letzte Tests erfolgreich absolviert. Mit dem ATV bezahle Europa quasi seinen eigenen Teil der Betriebskosten an der Raumstation ISS, erklärt Volker Schmid vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Bonn: Wenn europäische Astronauten - wie Thomas Reiter im vorigen Jahr - auf der ISS forschen und dabei Wasser trinken, Luft atmen und Lebensmittel essen, ist es nur recht und billig, wenn Europa auch für Nachschub sorgt. Genau diese Miete wird nun mit ATV "bezahlt": Alle zwölf bis 18 Monate wird das 9,79 Meter lange und 4,48 Meter dicke ATV bis zu 7,6 Tonnen Fracht zur ISS schleppen - von Kleidern und Nahrungsmitteln bis zur Laborausrüstung für Experimente, von bis zu hundert Kilogramm Atemluft und 840 Liter Trinkwasser bis zu 860 Kilogramm Sprit für die Düsen des russischen Teils der Raumstation.

1,4 Milliarden Euro hat sich die Esa die Entwicklung dieses Weltraum-Lastwagens kosten lassen, ein Viertel davon stammt aus deutschen Kassen. 30 Firmen aus zehn Esa-Staaten, Russland und den USA haben dabei Hightech vom Feinsten entwickelt. Der Automationsgrad ist beim ATV viermal höher als bei den russischen Weltraumtransportern des Typs Progress, erklärt DLR-Experte Volker Schmid. Außer Russland besitzt jetzt nur die Esa ein Raumfahrzeug, das vollautomatisch an die Raumstation andocken kann. Die Crew auf der ISS braucht nur über eine Kamera zuzuschauen.

Während US-amerikanische Piloten ihre Shuttles nach wie vor per Hand an die Andockstelle der ISS manövrieren müssen, wird dieser Job beim ATV gleich von mehreren vollautomatischen Ortungssystemen erledigt: erstens vom Satellitenortungssystem GPS, das auch auf der Erde beim Navigieren hilft; zweitens mithilfe von Radiowellen, drittens mithilfe von Infrarot-Lasern, die Muster, die an der ISS angebracht sind, abtasten und damit den exakten Kurs für das ATV berechnen. Als die Esa in einem 600 Meter langen Kanal in der Nähe von Versailles bei Paris das Andocken mit Originalteilen testete, traf das ATV die Andockstelle in fast allen Testgängen fast immer auf den Zentimeter genau.

Die Esa ist stolz auf diese deutsche Wertarbeit. Denn nach dem Prototyp "Jules Verne", der nach seiner Sommer-Schifffahrt über den Atlantik voraussichtlich im Januar 2008 zur ISS fliegen soll, sollen mindestens vier weitere ATV gebaut werden, die zu 51 Prozent mit deutschen Geldern produziert werden. Hauptauftragnehmer ist die EADS-Astrium-Schmiede für Raumfahrzeuge in Bremen. Von dort werden die ATV-Raumschiffe dann zum europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana verschifft. Dort wird das ATV auf eine der riesigen Ariane-5-Raketen der ESA montiert und in den Weltraum geschossen.

Gut dreihundert Millionen Euro kostet ein Flug. Diese "Miete" für die ISS ist aber immer noch billiger als ein Spaceshuttle der Nasa, das pro Start mit einer guten halben Milliarde US-Dollar zu Buche schlägt.

Ohnehin sollen die drei US-Raumfähren "Atlantis", "Endeavour" und "Discovery" offiziell nur noch bis 2010 Astronauten und Fracht zur Raumstation bringen, erzählt Volker Sobick, der DLR-Experte für bemannte Raumfahrt. Nach 2010 muss die Nasa ihre Gelder in die Erkundung von Mond und Mars stecken, wie Präsident George W. Bush angeordnet hat, und hat keine Mittel mehr für die Raumfähren.

Allerdings gibt es durchaus Überlegungen in der Nasa, den Spaceshuttle noch ein paar Flüge länger zu nutzen, falls der nächste US-Präsident dafür Gelder bereitstellt. Die Wahrscheinlichkeit dafür wächst mit der Lücke, die sich nach dem letzten Shuttle-Flug für die USA auftut.

Zwar arbeitet die Nasa längst am "Orion" genannten Nachfolger der Raumfähre; er greift wieder auf das Prinzip der Apollo-Kapsel zurück, mit der Neil Armstrong 1969 zum Mond geflogen ist: Auf einer riesigen Rakete sitzt eine Kapsel, die ihren eigenen Antrieb erst im Weltraum einsetzt. Das ist im Vergleich zur Raumfähre erheblich sicherer: Die Astronauten des Spaceshuttles sitzen beim Start unmittelbar neben den Flüssigtreibstoff-Tanks, die einer gigantischen Bombe gleichen.

Allerdings dürfte "Orion" frühestens 2015 oder noch später startklar sein. Stellen die Raumfähren also nach 2010 ihren Dienst ein, wären die Amerikaner auf die Hilfe Russlands und Europas angewiesen, um mit der Raumkapsel Sojus Kosmonauten und mit den Transportern Progress und ATV Nachschub zur Raumstation ISS zu bringen.

Ob das US-typische Unabhängigkeitsdenken eine so lange Abhängigkeit zulässt, bezweifeln viele Raumfahrtexperten. Jedenfalls hat sich die Nasa schon einmal erkundigt, ob sie denn zwei der ATV-Raumtransporter von der europäischen Esa kaufen könnte. Schöner könnte der Beweis für die Emanzipation Europas in der Raumfahrt gar nicht geliefert werden.

Das ATV aber ist noch viel mehr als ein perfekter Transporter. Genau wie der russische Weltraumfrachter Progress - der bei jedem Start weniger als drei Tonnen Material in den Weltraum hievt, dafür aber auch viermal im Jahr startet - soll auch das ATV die Flugbahn der gesamten Raumstation anheben.

Denn die ISS fliegt zwar in rund vierhundert Kilometer Höhe über der Erdoberfläche. Aber auch dort oben gibt es immer noch winzig kleine Mengen Luft. Wenn die ISS nun mit rund 29 000 Kilometern in der Stunde um die Erde rast, bremsen diese Luftteilchen die Raumstation etwas ab. Mit der Zeit sackt die ISS immer tiefer, wo die Luft noch ein wenig dichter ist. Die ISS wird noch schneller gebremst und droht abzustürzen.

Sobald das ATV daher an die Raumstation angedockt ist, kann es seine vier Haupttriebwerke zünden und die im Endausbau wohl 330 Tonnen schwere ISS je nach Bedarf rund zwanzig Kilometer höher in eine sichere Umlaufbahn schieben. Dabei verfeuert das ATV allerdings ein oder zwei Tonnen Sprit, die von der Nutzlast abgehen.

Nach einem halben Jahr an der Raumstation beginnt die Schlussphase im "Leben" eines ATV. Dann legt es, beladen mit 6,3 Tonnen Abfall, von der ISS ab und stürzt über dem Südpazifik so steil in die Atmosphäre, dass die gesamte Konstruktion verglüht.

Die Emanzipation Europas aber endet damit keineswegs. Vier weitere Raumtransporter will die Esa zunächst ordern und im Abstand von gut einem Jahr starten. Und Raumfahrtexperten gehen fest davon aus, dass Europa sogar noch mehr als die bisher bestellten vier ATV bauen wird.

Ein weiterentwickelter Transporter könnte später einmal Lasten von der ISS zurück zur Erde bringen oder auch bei der europäischen Mars-Mission eingesetzt werden. Gemeinsam mit russischen Kollegen laufen außerdem bereits Vorstudien für ein bemanntes System, das auf ATV-Technologie zurückgreift. Damit könnten die Europäer erstmals selbst Astronauten ins All befördern.