Milchrinder werden gleich nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. Forscher des Thünen-Instituts suchen nach Alternativen für mehr Tiergerechte Haltung.

Trenthorst Kuh mit Kälbchen auf der Weide – solch idyllisches Bild gibt es höchstens bei der Mutterkuhhaltung zur Erzeugung von Rindfleisch. Milchkühe werden am ersten Tag nach der Geburt von ihren Kälbern getrennt. Denn schon nach wenigen Tagen ist die Bindung zwischen den Tieren so gefestigt, dass der Trennungsschmerz groß wäre. Die Alternative, ein monatelanges Miteinander, ist nicht erwünscht, weil dann das Kalb einen Teil der Milch wegsäuft, die die Landwirte vermarkten wollen. Gerade Biobauern spüren bei der heutigen Praxis zunehmend Unbehagen. Das Institut für Ökologischen Landbau in Trenthorst bei Bad Oldesloe erprobt Alternativen, bei denen die Kälber länger von ihren Müttern oder von Ammenkühen gesäugt werden.

Kommt ein Kälbchen zur Welt, so saugt es meist schon am zweiten Lebenstag an einer Zitze, die an einem Plastikeimer hängt und nicht am Euter der Mutter. Schließlich sollen die Kühe produktiv bleiben. Damit der Milchstrom nicht versiegt, müssen sie einmal im Jahr kalben. Der Nachwuchs soll den Ertrag aber möglichst wenig schmälern. In der konventionellen Haltung bekommen die Kälber deshalb eine Ersatznahrung (Milchaustauscher). Sie enthält entweder nur tierische Eiweiße (z.B. aus Molkepulver) oder wird mit pflanzlichen Eiweißen wie Soja- oder Weizenproteinen ergänzt. Nach den Richtlinien des Ökolandbaus müssen Biokälber drei Monate lang mit Vollmilch getränkt werden, bevor sie auf Kraft- und Raufutter (strukturreiches Futter wie Gras, Silage, Heu) umgestellt werden.

Da bei der Biohaltung ein Teil der Milch ohnehin für den Nachwuchs abgezweigt wird, bietet es sich hier eher als bei konventionellen Betrieben an, die Kälber länger bei ihren Müttern zu belassen. Wie das tiergerecht und gleichzeitig wirtschaftlich zu machen ist und wie eine verzögerte Trennung vollzogen werden kann, erforscht Dr. Kerstin Barth am Trenthorster Thünen-Institut seit gut zehn Jahren. Insgesamt stehen ihr 100 Milchkühe zur Verfügung, für einzelne Forschungsprojekte werden meist 40 bis 50 Tiere eingesetzt.

„Die muttergebundene Aufzucht hat Vor- und Nachteile“, sagt Barth. „Positiv ist, dass die Tiere ihr natürliches Kuh-Kalb-Verhalten ausleben können. Der frühzeitige Kontakt zu erwachsenen Tieren könnte das Sozialverhalten fördern. Wir haben dazu gerade eine Untersuchung abgeschlossen und befinden uns mitten in der Auswertung. Dabei ging es um die Eingliederung der tragenden Färsen (Kühe, die noch nicht gekalbt haben, die Red.) in die bestehende Herde. Das ist für jede junge Kuh eine sehr stressige Situation. Sie wird mit meist unbekannten Herdenmitgliedern konfrontiert und muss ihren Platz in der Rangordnung der Herde erst finden. Wir wollen prüfen, ob Färsen, die als Kälber intensiven Kontakt zu erwachsenen Tieren hatten, besser mit dieser Situation umgehen können.“ Bereits fest steht: Sonst typische Verhaltensstörungen wie das gegenseitige Besaugen der Kälber werden drastisch reduziert – „wir haben gegenseitiges Besaugen bei den muttergebunden aufgezogenen Kälbern gar nicht beobachtet“.

Nachteile gebe es vor allem beim Milchertrag, so Barth: „Eine Milchkuh gibt im Melkstand normalerweise 20 bis 40 Liter Milch pro Tag; in den ersten Monaten nach der Geburt ist es besonders viel. Wenn das Kalb säugt, nimmt es 15 bis 16 Liter auf, die dann am Melkstand fehlen.“ Ein Kalb, das mit Ersatznahrung aufwächst, wird sparsamer getränkt; es bekommt sechs bis acht Liter Milchaustauscher pro Tag. „Kälber, die mit ihren Müttern zusammengehalten werden, legen schneller an Gewicht zu. Aber sie haben es nach dem Absetzen von der Milch schwerer mit der Futterumstellung“, sagt Kerstin Barth. Zudem bekommen die Tiere leicht Durchfall, weil ihr Verdauungstrakt nicht auf so viel Milch eingestellt ist. Denn von Natur aus ist das Angebot begrenzt, bei den Hochleistungskühen dagegen nicht.

Ein zweiter Effekt bremst bei säugenden Kühen den Ertrag: „Die Milchabgabe ist gestört, weil im Melkstand das Hormon Oxytocin weniger stark ausgeschüttet wird. Der Botenstoff ist aber wichtig, damit die Kuh gut mit der Maschine gemolken werden kann.“

Zwei Ansätze könnten Abhilfe schaffen: Der zeitliche Zugang zum Euter könnte für das Kalb begrenzt werden. Dabei können die Tiere getrennt werden, etwa durch einen Kälberbereich, den der Nachwuchs nur zu bestimmten Zeiten verlassen kann, um zu Mutters Milchbar zu kommen. Auch in der Natur finden sich Kälber in einem Kindergarten zusammen, werden weiter von der eigenen Mutter betreut.

Anders beim zweiten Ansatz, der Ammenkuh. Sie versorgt – oft neben dem eigenen – mehrere fremde Kälbchen, sodass die Mütter dieser „Adoptivkinder“ am Melkstand die volle Milchleistung bringen können. Gleichzeitig wird das Milchangebot für jedes einzelne Kalb beschränkt. Maximal vier Kälber kann eine Ammenkuh gleichzeitig versorgen.

Der nächste Projektdurchgang steht in Trenthorst gerade bevor: Im August werden 35 Kälber geboren. Mit ihnen sollen vor allem zwei Fragen erkundet werden: Wie lässt sich die Milchabgabe säugender Kühe am Melkstand verbessern und wie das Absetzen nach 90 Tage möglichst tiergerecht gestalten? Mit den 90 Tagen hält sich der Versuchsbetrieb an die Vorschriften der Biorichtlinie, denn er selbst ist ökozertifiziert.

„Bislang haben wir die Kälber nach drei Monaten abrupt umgewöhnt, von einem Tag auf den anderen“, sagt Kerstin Barth. „Jetzt wollen wir sie langsam entwöhnen.“ Bei der abrupten Umstellung gibt es einen Knick in der Gewichtszunahme (allerdings wiegen die Kälber dann immer noch mehr als der mit Ersatznahrung aufgepäppelte Nachwuchs). Nun gilt es herauszufinden, ob der Knick eher der Futterumstellung geschuldet ist oder durch die Trennung von der Mutter auftritt. In der Natur laufen die Kleinen sieben bis acht Monate mit ihren Müttern mit und gewöhnen sich allmählich durch Nachahmung ihrer weidenden Mütter an die Graskost.

Kerstin Barth ist überzeugt, dass das Konzept, Kälber drei Monate bei ihrer Mutter oder einer Ammenkuh zu belassen, eine Zukunft hat: „Ich arbeite jetzt zwölf Jahre in Trenthorst. In dieser Zeit haben die Anfragen und generell das Interesse an dem Thema zugenommen, vor allem bei Demeter-Betrieben.“ Die Agrarforscherin nennt drei Gründe, die für die längere Säugezeit sprechen: die ohnehin vorgeschriebene Vollmilch-Fütterung, eine bessere Kälbergesundheit und eine höhere Berufszufriedenheit der Ökobauern. Potenziell profitieren also nicht nur Kuh und Kalb vom neuen Konzept.