Mehr als ein Jahrhundert war die einzige Tonaufnahme des Reichskanzlers von 1889 verschollen. Jetzt wurde die Aufnahme wiederentdeckt.

Hamburg. Es zischt, knistert und knarzt und man braucht schon guten Willen, um überhaupt etwas zu verstehen. "Friedrichsruh am 7. Oktober 1889", sagt eine noch einigermaßen klare Männerstimme, doch was nun folgt, ist nur noch schwer wahrzunehmen.

Es ist eine Stimme aus dem Jenseits, aus dem vorletzten Jahrhundert, aus einer Zeit, in der man nichts von Weltkriegen und Globalisierung wusste und noch glaubte, dass Geschichte von Männern geschrieben wird. Von großen Männern wie Otto von Bismarck (1815-1898). Seit Anfang dieser Woche hat der einflussreichste deutsche Politiker des 19. Jahrhunderts wieder eine Stimme. Man kann sie trotz störender Nebengeräusche als die Stimme eines Menschen hören, der sich dieses besonderen Moments bewusst ist. Der weiß, dass der Ton seiner Worte, ihr Timbre und die Art seiner Aussprache ihn überdauern und auch dann noch zu hören sein werden, wenn er längst nicht mehr am Leben ist.

Gestern teilte die in Friedrichsruh im Sachsenwald ansässige Otto-von-Bismarck-Stiftung mit, dass es den Mitarbeitern des Edison-Archivs in West Orange im US-Bundesstaat New Jersey gelungen ist, eine Walze mit einer historischen Tonaufnahme aus dem 19. Jahrhundert als die Stimme des Reichsgründers zu identifizieren.

+++ Stationen seines Lebens +++

"Dass es diese Aufnahme geben muss, war allgemein bekannt. Aber niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Jahrzehntelang zählte sie zu den weltweit am meisten gesuchten Tondokumenten", sagt Professor Ulrich Lappenküper, der Geschäftsführer der vom Bund getragenen Otto-von-Bismarck-Stiftung. Er blättert im originalen Gästebuch von Friedrichsruh und zeigt einen Eintrag vom 7. Oktober 1889. Ein gewisser Theo Wangemann hat dort unterzeichnet mit dem ziemlich krakeligen Zusatz "from A. Edison Laboratory Orange N.J. U. States A.".

Bereits zwölf Jahre zuvor hatte der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison ein Patent für eine "Sprechmaschine" eingereicht. Dieser Phonograph machte weltweit Schlagzeilen, denn damit wurde es erstmals möglich, akustische Aufnahmen herzustellen und diese später wiederzugeben. Zum Besuch der Pariser Weltausstellung von 1889 reiste Edison persönlich nach Europa, wo er auf Einladung des Industriellen Werner von Siemens auch nach Deutschland kam. Zu seiner Begleitung gehörte der Ingenieur Theo Wangemann, ein Deutsch-Amerikaner, der bei Edisons Firma angestellt war und die Technik des Phonographen beherrschte. Möglicherweise schon vor der Europa-Reise hatte Edison die Idee zu einer Tondokumentation besonderer Art: Mithilfe seines Phonographen wollt er "bedeutende Stimmen der Welt" akustisch dokumentieren.

Nach dem Ende der Weltausstellung machte sich Wangemann auf den Weg nach Friedrichsruh im Sachsenwald, wo er den berühmten deutschen Reichskanzler treffen und aufnehmen wollte, eine der prominentesten Persönlichkeiten dieser Ära. Für Bismarck waren es stürmische Zeiten. Im Herbst 1889 zeichnete sich bereits ab, dass es zwischen ihm und dem seit einem Jahr regierenden Kaiser Wilhelm II. schwere und kaum mehr zu lösende Konflikte geben würde. Im März 1890, als er die Rückendeckung des Kaisers endgültig verloren hatte, reichte er sein Entlassungsgesuch ein und zog sich grollend nach Friedrichsruh zurück, auf jenes Gut, das er nach der Reichsgründung im Jahr 1871 von Wilhelm I. als Geschenk erhalten hatte. Das direkt an der Bahnstrecke von Hamburg nach Berlin gelegene Friedrichsruh war dank der Prominenz seines Besitzers schon damals eine Pilgerstätte und eines der beliebtesten Ausflugsziele in der Umgebung der Hansestadt.

Aber schauen wir zurück auf den 7. Oktober 1889: Punkt 1 Uhr trifft Theo Wangemann samt Gattin mit dem Zug auf dem Bahnhof von Friedrichsruh ein. In Begleitung mehrerer Journalisten fährt er ins nahe gelegenen Schloss, wo er von Bismarck und dessen Gattin zum späten "Frühstück" empfangen wird. Während man speist und plaudert, baut ein Mechaniker der Firma Siemens und Halske nebenan im Salon den Edison-Phonographen auf, an dem Bismarck außerordentlich interessiert ist.

+++ Edison konnte es auch nicht besser +++

In der "Neuen Preußischen Zeitung" vom 9. Oktober 1889 heißt es: "Der Kanzler hörte sogleich den Radetzky-Marsch, den am 14. September Musiker des Kaiser-Franz-Regiments gespielt hatten, hierauf den Kaiser-Alexander-Marsch, der neulich nach dem Orchester der ganzen Regimentskapelle aufgenommen worden ist. Auf Begehr der Fürstin Bismarck zeigte Herr Wangemann nun die Rolle, mit den Stimmen der kaiserlichen Prinzen und bereitete dem Reichskanzler und seiner Gemahlin damit die herzlichste Freude." Der Nachmittag wird zum Wunschkonzert. Das Ehepaar fühlt sich sichtlich wohl und Wangemann muss eine Rolle nach der anderen auflegen. Man lauscht einer Sopran-Arie aus Gounods Oper "Margarete", einem Klavierstück von Chopin und einer weiteren Opernarie. Bismarck ist begeistert, er vergleicht Edisons Phonographen mit der Münchhausen-Geschichte, in der ein Postillon in der Kälte vergeblich ins Horn bläst und der "eingefrorene" Ton sich erst später löst, als das Horn in der warmen Gaststube hängt. Aber der Phonograph sei noch besser, denn dessen konservierte Töne könne man sogar 10 000-mal hören.

Erst am späten Nachmittag findet Wangemann Gelegenheit, sich dem eigentlichen Ziel seiner Reise zu widmen. Höflich bittet er den Fürsten um eine Tonaufnahme. Der Mechaniker bereitet die Aufnahme-Funktion des Phonographen vor und der Reichskanzler überlegt, mit welchen Texten seine Stimme unsterblich werden soll.

Die Auswahl ist bemerkenswert: Zuerst rezitiert er, wohl als Reverenz an den Gast, die ersten Verse des amerikanischen Volkslieds "In good old colony times", das er von einem alten Freund in Göttingen gelernt hat. Dann folgt die erste Strophe des Gedichts "Als Kaiser Rotbart lobesam / Zum heil'gen Land gezogen kam", anschließend die erste Strophe des Studentenliedes "Gaudeamus igitur", das Bismarck aber ebenfalls nicht singt, sondern spricht. Erstaunlich ist, dass der konservative deutsche Reichskanzler anschließend ausgerechnet den Beginn der "Marseillaise", der Nationalhymne der Französischen Republik, rezitiert. Abgeschlossen wird die Aufnahme durch ein paar mahnende Worte, die Bismarck an seinen Sohn Herbert richtet.

Das ist zugleich als eine Art Test gedacht, denn die Aufnahme soll später dem Grafen Herbert vorgespielt werden, damit dieser feststellen kann, ob er die Stimme seines Vaters tatsächlich erkennt.

Hören Sie hier die Original-Tonaufnahme:

Bismarck selbst findet seine Stimme merkwürdig fremd, während sie seiner Frau und den weiteren Anwesenden vertraut vorkommt. Auch Herbert, der die Aufnahme einige Wochen später in Budapest zu hören bekommt, erkennt die Stimme, dürfte aber über die Ratschläge des Vaters verwundert gewesen sein. Empfiehlt ihm dieser doch Mäßigung im Essen und Trinken, obwohl der Reichskanzler in diesen Dingen bekanntermaßen selbst unmäßig lebte.

Wangemann ist zufrieden und die Bismarcks sind es auch. Der eigentlich nur für den Nachmittag geplante Besuch dehnt sich bis in den späten Abend aus, sodass der Amerikaner seinen Zug verpasst und über Nacht bleiben muss.

Theo Wangemann macht anschließend noch weitere Aufnahmen, etwa von der Stimme des preußischen Generals Helmuth von Moltke. Im Dezember 1889 reist er nach Wien, wo er Johannes Brahms zu Aufnahmen einlädt. Brahms spielt eine abgekürzte Version seines ersten Ungarischen Tanzes. Die Aufnahmequalität ist aufgrund der noch äußerst beschränkten technischen Möglichkeiten sehr bescheiden, dennoch handelt es sich um ein bedeutendes Tondokument der Musikgeschichte, das später auch auf Schallplatteneditionen veröffentlicht wurde.

Demgegenüber war über den Verbleib der Bismarck-Aufnahme schon bald nichts mehr bekannt.

Schon 1957 fand man zwar im Edison Archive in West Orange hinter dem Bett, in dem der Erfinder sich gelegentlich auszuruhen pflegte, mehrere Holzkisten mit Phonographen-Zylindern, deren Inhalt aber nicht bekannt war. Erst 2011 gelang es dem dortigen Kurator Jerry Fabris mithilfe einer neuen Technologie, die Signale der alten Wachszylinder wieder hörbar zu machen. Da die Texte, die Bismarck gelesen hat, bekannt waren, konnte man die Aufnahme zweifelsfrei identifizieren.

+++ Roter Schal am Bismarck-Denkmal lässt Hamburger rätseln +++

"Es ist natürlich eine äußerst bescheidene Qualität, aber gerade zu Beginn und gegen Ende des Dokuments kann man Bismarcks Stimme doch deutlich vernehmen. Wir jedenfalls sind eigentümlich berührt von dieser neuartigen 'Begegnung' mit dem Objekt unserer Forschungs- und Bildungsbemühungen", heißt es in einer Mitteilung der Otto-von-Bismarck-Stiftung.

Und deren Geschäftsführer Ulrich Lappenküper meint, dass sich damit vielleicht sogar ein lange gehegtes Vorurteil entkräften lässt. Dem Abendblatt sagte der Historiker: "Es gibt Berichte, die Bismarck eine hohe Fistelstimme bescheinigen, die kaum zu seinem massigen Körper passen würde. Trotz der schlechten Qualität scheint dieses einzige originale Tondokument, das von Bismarck überliefert wurde, diesen Eindruck zu korrigieren."

Für die deutsche Presse war die Tonaufzeichnung in Friedrichsruh 1889 ein spannendes Thema. Die Zeitungen berichteten sehr ausführlich darüber. Dass Bismarck auch die Nationalhymne des "Erbfeindes" gesprochen hatte, enthielten sie ihren Lesern allerdings vor. Das war damals nur in der "New York Times" zu lesen.