Mehr als 60 000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich. Die Infektion ist mit Antibiotika gut zu behandeln.

Der Brief klingt wie ein Hilferuf. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr sei sie kerngesund gewesen, schreibt die Frau. Dann habe eine Borrelien-Infektion verheerende Folgen verursacht: Unterleibsschmerzen, Rückenprobleme und lilablaue Flecken an Gelenken. "Mein Hausarzt muss mir immer wieder Antibiotika verschreiben, da die Symptome neu auftreten", berichtet sie und bittet um Rat.

Solche Klagen erreichen Helmut Eiffert von der Uniklinik Göttingen fast täglich. Seit einigen Jahren wird der Infektiologe, Autor etlicher Fachartikel über die bakterielle Erkrankung, mit Klagen über vage Beschwerden wie Müdigkeit, Muskelschmerzen, Konzentrationsschwäche oder Schlafstörungen konfrontiert, die Patienten als Zeichen einer Borrelien-Infektion werten. "Borreliose ist zum Sammelbecken für Spekulationen und Befürchtungen mit einer Vielzahl unspezifischer Beschwerden geworden", klagt Eiffert. Das führe zu Überdiagnosen und Übertherapien.

Dagegen warnt Ute Fischer davor, die Krankheit zu verharmlosen. Die Geschäftsführerin des Borreliose-Bunds Deutschland schätzt, dass bundesweit jährlich zwischen 60 000 und 100 000 Menschen an Borreliose erkranken, etwa eine Million Menschen an chronischen Beschwerden durch Borrelien leiden. Ärzte würden das Leid dieser Patienten ignorieren und die Symptome als psychosomatisch bedingt abtun, kritisiert Fischer.

Der Streit zwischen Patientengruppen und der Mehrheit der Mediziner schwelt seit Jahren. Unstrittig ist, dass die Bakterien noch nach Jahren ein enormes Spektrum an Beschwerden hervorrufen können. Dabei führt aber nicht jeder Zeckenstich zu einer Infektion. Auch eine spontane Ausheilung einer Borreliose ist möglich. Und etwa 50 Prozent der Infektionen verlaufen völlig beschwerdefrei. Eiffert schätzt, dass etwa 0,3 bis 1,4 Prozent der Zeckenstiche in eine Borreliose münden.

Typischster Warnhinweis ist die Wanderröte - ein Fleck um die Einstichstelle, der Tage oder Wochen nach einem Zeckenstich auftreten kann. Aber Vorsicht: Etwa 30 Prozent der Borrelien-Infektionen verlaufen ohne die typische Hautrötung.

Breiten sich die Bakterien im Körper aus, verursachen sie je nach Region unterschiedliche Beschwerden. Schwellungen und Schmerzen an Gelenken wie Knie und Ellbogen können auf die Erkrankung hindeuten. Die Neuroborreliose, bei der die Erreger das Nervensystem befallen, äußert sich durch Nervenentzündungen mit brennenden Schmerzen, Blasenstörungen oder Lähmungen von Gesichtsmuskeln. Seltener sind Probleme am Herzen oder eine pergamentartige bläuliche Haut.

Die vielfältigen Erscheinungsformen erschweren Ärzten die Diagnose. "Den wichtigsten Hinweis auf die Krankheit liefert die Art der Beschwerden", erläutert Volker Fingerle, der das Nationale Referenzzentrum für Borrelien leitet. Im zweiten Schritt sollte ein Bluttest Aufschluss geben darüber, ob der Körper tatsächlich Kontakt zu Borrelien hatte. Antikörper gegen Borrelien sind normalerweise zwei bis vier Wochen nach dem Zeckenstich nachweisbar, manchmal auch erst nach zwei Monaten. Eine Person kann also mit Borrelien infiziert sein, obwohl die Blutprobe negativ ausfällt. Umgekehrt bedeutet eine positive Blutprobe nicht, dass sich ein Mensch erst kürzlich mit Borreliose angesteckt hat. Sie zeigt lediglich, dass das Immunsystem sich in der Vergangenheit gegen Borrelien gewehrt hat. Zehn bis 15 Prozent aller Bundesbürger haben Antikörper.

Deshalb suchen Ärzte nach weiteren Hinweisen auf eine Entzündung. Um herauszufinden, ob die Borrelien eine Entzündung im Gehirn (Neuroborreliose) hervorgerufen haben, analysieren sie das Nervenwasser. Wenn keine Entzündungszeichen wie vermehrte weiße Blutkörperchen oder spezifische Antikörper nachweisbar seien, "fehlt ein entscheidendes Kriterium", sagt Fingerle.

Viele Patienten vertreten die Ansicht, eine Borreliose könne auch ohne Entzündung vorliegen. Fischer nimmt an, die Erreger können sich bei ungünstigen Bedingungen im Bindegewebe verstecken und später wieder aktiv werden. Deshalb machen manche Patienten "über Jahre hinweg immer wieder Antibiotika-Kurse", weiß Neurologe Holger Schmidt, der die Borreliose-Sprechstunde der Uniklinik Göttingen leitet. Viele Betroffene sagen, dass ihre Beschwerden nach Antibiotika-Einnahme abflauen. Deshalb greifen sie immer wieder zu den Arzneien. Zwingend ist das nicht, denn manche Antibiotika hemmen Entzündungen, andere die Schmerzentstehung im Gelenk.

Dass es Fälle von chronischer Borreliose gibt, ist unbestritten. Aber solche andauernden Infektionen seien sehr selten, betont Eiffert.

Um zu klären, wie oft der Verdacht auf chronische Neuroborreliose begründet ist, untersuchten Schmidt und Eiffert 127 Patienten, die an die Göttinger Borreliose-Sprechstunde verwiesen worden waren. Ein Patient litt wirklich an der Krankheit. Bei etwa der Hälfte der Probanden fanden die Mediziner andere organische Ursachen wie etwa rheumatische Erkrankungen. Die häufigste Krankheit, die bislang nicht erkannt worden war, war die Multiple Sklerose. Jeder achte Teilnehmer litt daran. "Das zeigt, dass man andere organische Ursachen sorgfältig ausschließen muss", betont Schmidt.

Bei fast der Hälfte der Patienten fanden die Mediziner keine organische Erklärung. Dies galt insbesondere bei Menschen mit unspezifischen Beschwerden. "Man sollte sich nicht unbedingt mit der Diagnose chronische Borreliose zufrieden geben, sondern auch für andere Erklärungen offen sein", folgert Eiffert.