Aggressivität im Straßenverkehr nimmt zu. Fachleute untersuchen, warum dort Menschen ausrasten, die sonst nichts erschüttern kann.

Eigentlich sei er ja ganz anders, sagt Ingo Naumann. Der 43-Jährige schnauft mehr, als dass er spricht. Und das Gesicht des Familienvaters gleicht nun, nach zwei Stunden im Stau, vollends der roten Ledersitzgarnitur seines sportlichen 3er BMW. "Das ist jetzt bestimmt schwer zu glauben", sagt er, und es scheint ihm ein bisschen peinlich zu sein. Zu Hause, da könne kommen was wolle, da lasse er sich überhaupt nicht reizen. Nicht in seinem eigentlichen Leben. Doch wenn Ingo Naumann auf Hamburgs Straßen unterwegs ist, überkommt es ihn. Sein adrenalingesteuerter Wut-Tacho beschleunigt dann im Nu von null auf 180.

Menschen wie Naumann gibt es viele. Einige kennt man persönlich, andere wiederum nur durch die Anonymität der Windschutzscheibe. Und doch fragt man sich beim Anblick der zornesroten Gesichter im Auto nebenan: Was macht eigentlich der Straßenverkehr aus diesen Menschen? Wie schafft er es, dass arrivierte Männer innerhalb nur weniger Sekunden problemlos einige Evolutionsstufen zurückpurzeln können und ihre Kommunikationsfähigkeit auf gutturale Laute, herzhafte Flüche und Hupgeräusche reduzieren? Wieso werden ganz normale Menschen im Auto derart aggressiv?

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Eine Erklärung sieht der Hamburger Verkehrspsychologe Jörg-Michael Sohn in den enttäuschten Mobilitätsversprechungen der Werbung. "Dort wird noch immer ein sehr starkes Bild von Freiheit suggeriert", sagt Sohn. Doch die werbewirksamen Straßen in den Weiten des unbefahrenen Landes haben wenig mit der Realität des deutschen Straßenverkehrs zu tun. Das Mobilitätsversprechen - schnell und unabhängig von A nach B zu kommen - entspricht nicht dem alltagsdeutschen Stop and Go im hektischen Feierabendverkehr. Das sorgt für Frustration. Und oft auch für Aggression.

Macht also erst der Straßenverkehr den Menschen zum Aggressor am Steuer? Lüder Plath kann das bestätigen: "Ich habe in meiner ganzen Laufbahn noch keinen aggressiven Fahrschüler gehabt", sagt Plath, Inhaber der Fahrschule "An der Alster" und seit 13 Jahren Fahrlehrer. Für ihn ist die Aggression hinter dem Steuer vielmehr eine Sozialisationssache. "Viele Autofahrer fragen sich: Warum soll ich mich an die Regeln halten, wenn andere es auch nicht tun?" Die vermeintliche Erfahrung, dass ständig Regeln gebrochen werden, färbt langsam ab. Dabei wird das Fehlverhalten im Straßenverkehr oft unterschätzt, glaubt Plath: "Natürlich fallen einem selbst immer die Regelverstöße auf, nicht das korrekte Fahrverhalten."

In seiner Fahrschule am Mundsburger Damm steht eine Holzbank, auf der sich seine Fahrschüler nach der bestandenen Prüfung verewigen: "Vielen Dank für die Geduld, Lüder" steht da etwa. Geduld ist eine der Kerntugenden jedes Fahrlehrers. Und der 50 Jahre alte Plath versucht, sie auch an seine Fahrschüler weiterzugeben. Er will ihnen klarmachen, dass der Feierabend in dem Moment beginnt, in dem man in das Auto steigt, nicht erst, wenn man sein Fahrtziel erreicht hat. Ruhe behalten ist wichtig. Für jeden Fahranfänger und für jeden Fahrprofi.

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Es gibt noch eine weitere Ursache, die das aggressive Verhalten erklärt, sagt Verkehrspsychologe Sohn: "Straßenverkehr ist ein hochkommunikativer Prozess." Aber die Konstruktion von Autos lässt eine differenzierte Kommunikation nur schwer zu. "Wenn Sie im Supermarkt mit dem Einkaufswagen jemandem in die Hacken fahren, entschuldigen Sie sich ganz selbstverständlich", vergleicht Sohn den Kommunikationsprozess. Abgekapselt im Auto, ist das allerdings nicht so einfach - wir können schlicht nicht miteinander reden. Oft werden Zeichen falsch interpretiert, die anderen Fahrer falsch eingeschätzt. Seinen Klienten rät er, sich immer wieder in die anderen Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen.

Jeder Fahrer ist anders, und jeder Fahrer reagiert anders. Menschen gehen unterschiedlich mit dem Stress im Straßenverkehr um. Während Ingo Naumann sich selbst als den "Schnellkochtopf" unter den Autofahrern empfindet, bleibt seine Frau auch in unangenehmen Situationen ganz ruhig. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, beauftragte der ADAC das Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg mit einer Studie. Ergebnis: Es wurden fünf Stresstypen identifiziert (siehe Grafik). Die Männer dominieren in den beiden Hauptgefahrengruppen: den "konfrontativen Fahrern" und den "vermeintlichen Alleskönnern". Frauen bleiben am Steuer hingegen am längsten cool.

Tatsächlich wird gerade unter Männern die Situation immer bedrohlicher. Eine offizielle Statistik gibt es zwar nicht, aber die gefühlte Aggressivität auf den Straßen nimmt deutlich zu, sagt Dietmar Kneupper, Leiter der Hamburger Verkehrsdirektion. Das folgt dem Gesetz des Stärkeren.

Das bestätigen sowohl zunehmende Beschwerden von Bürgern als auch die Rückmeldungen der Polizeibeamten vor Ort. "In Hamburg entwickelt sich ein Verkehrsklima, das uns nicht gefällt. Der Stärkere setzt sich hier rücksichtslos durch." Als Präventivmaßnahmen setzt die Polizei auf Aufklärung durch Infostände, Broschüren, Gespräche. Aber auch auf verschärfte Kontrollen, die verdeutlichen sollen, dass es gegenüber aggressivem Autofahren null Toleranz gibt.

An der Leuphana-Universität Lüneburg wird derzeit hingegen ein ganz anderer Ansatz erarbeitet. Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Psychonik" versuchen Wissenschaftler eine Fahrzeugelektronik zu entwickeln, die auf menschliche Emotionen reagieren kann. In einem ersten Schritt hat man Sensoriken entwickelt, um den emotionalen Zustand des Fahrers analysieren zu können. Dabei werden beispielsweise Mimik, Gestik und Sprache des Fahrers untersucht. Die Versuche zeigen, dass "Ärger die am häufigsten vorkommende negative Emotion beim Autofahren ist", sagt Diplom-Psychologe Michael Oehl, Mitarbeiter am Institut für Experimentelle Wirtschaftspsychologie. Verbunden ist das meist mit einer riskanten Fahrweise. Doch auch positive Emotionen wie Freude können das Fahrverhalten negativ beeinflussen, sie führen leicht zur Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Im nächsten Schritt wird nun versucht, ein Assistenzsystem zu entwickeln, das regulativ auf das Fahrverhalten einwirkt, etwa durch ein direktes Feedback an den Fahrer oder eine automatische Abstandskontrolle. Sie soll dem emotionalen Fahrverhalten Rechnung tragen.

"So eine technische Kontrolle, das wäre schon was", sagt die Frau von Ingo Naumann. "Auf mich hört er ja nicht." Neumann lächelt, denn er ist jetzt zu Hause, und da bringt ihn nichts aus der Ruhe. Nur das leichte Kopfschütteln verrät, dass er eigentlich nicht sonderlich daran interessiert ist, sich im Verkehr etwas vorschreiben zu lassen. Weder von seiner Frau noch von einer Maschine. Aber das sagt er natürlich nicht. Hier sind weder Kopf noch Ampeln rot, nur das Sofa im Wohnzimmer. Und Ingo Naumann, der ist wieder ganz er selbst.