Ansichtssache

Marco W. hat wirklich Pech. Ganz unabhängig davon, ob er sich strafbar gemacht hat oder nicht: Ohne es zu ahnen, ist er zwischen große politische Fronten geraten.

Zum einen gibt sich Europa liberal und tendiert dazu, ein Auge zuzudrücken - da haben sich zwei Kids in eine Lage manövriert, die eigentlich keinen Staatsanwalt erfordert. Zum anderen verlangt Europa von der Türkei vor einem möglichen EU-Beitritt weitreichende Reformen. Die Türkei wiederum will ihre Modernität und Rechtsstaatlichkeit nun auch unter Beweis stellen.

Sie hat ja auch im Hinblick auf EU-Standards seit 2001 ein ganzes Reformpaket verabschiedet: die Todesstrafe abgeschafft, Folter verboten, ein neues Ehe- und Scheidungsrecht in Kraft gesetzt, das Männer und Frauen gleichstellt. 2004 paukte die regierende konservativ-islamische AK-Partei gegen heftige Widerstände außerdem eine Strafrechtsreform durch - mit einer Verschärfung bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen. Pech für Marco.

Danach wird jetzt sexueller Verkehr mit Minderjährigen unter 15 Jahren - Beischlaf, Vergewaltigung - mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Auch "sexuelle Handlungen" mit Minderjährigen, die mit deren Zustimmung stattfinden, werden mit sechs Monaten bis drei Jahren Gefängnis bestraft, erläutert der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Otay Caglar. "Das Gesetz hat erwachsene Täter im Blick, gilt aber auch für Jugendliche." Ein Jugendstrafrecht wie in Deutschland mit verschiedenen Modalitäten für die Strafzumessung gebe es noch nicht, sagt Caglar. "Es wird Zeit, dass die Türkei hier noch nachbessert."

Die neuen Missbrauchsparagrafen zielen allerdings nicht auf Touristen wie Marco: Sie sollen vor allem Mädchen schützen, "die in Dörfern noch in illegale Ehen gezwungen werden", sagt Silvia Tellenbach, Türkeiexpertin des Freiburger Max-Planck-Instituts für internationales Strafrecht. Mit den Missbrauchsparagrafen und dem neuen Eherecht, das das Heiratsalter für Männer wie Frauen auf 17 Jahre heraufsetzt, "wollte man auch gegen die Zwangsheiraten vorgehen", sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün. "Wenn ein Mann ein Mädchen vergewaltigte und dann sagte: Na gut, ich heirate sie, war früher alles in Ordnung. Heute muss der Staatsanwalt den Täter verfolgen."

Auch im modernen Teil der Türkei gehen junge Leute heute mit Sex wesentlich lockerer um, hat man sich von patriarchalischen Traditionen weitgehend verabschiedet. Mädchen in Istanbul zeigen selbstbewusst ihre gepiercten Bauchnabel. Jungfräulichkeit bis zur Ehe halten viele junge Türkinnen für einen Witz. In der Westtürkei sind die Reformen des Staatsgründers Kemal Atatürk seit 1923 nicht folgenlos geblieben. Atatürk begann etwa mit einer teilweisen Gleichstellung von Mann und Frau, schaffte 1924 die islamische Scharia ab, 1925 den Schleier für Frauen, führte die Koedukation an Schulen ein.

Die Osttürkei hingegen ist quasi ein anderes Land, in dem Atatürks Reformen nie ankamen, in dem ein Großteil der Bevölkerung am türkischen Wirtschaftswunder und an den sozialpolitischen Fortschritten nicht teilhat. Nach einer Weltbank-Studie sind 600 000 Mädchen nicht eingeschult. Die Reformen zielen auf ein Gebiet, mit dem die "neue Türkei" am liebsten nichts zu tun hätte. Sie will keinesfalls von den Europäern mit der Rückschrittlichkeit ihres "wilden Ostens" gleichgesetzt werden.

Ohnehin wirft die größte und EU-kritische Oppositionspartei CHP der Regierung unter Abdullah Gül vor, sie mache Europa zu viele Zugeständnisse. "Steinmeiers sensible Diplomatie im Fall Marco half nicht, weil es sich Gül einfach nicht leisten kann, etwas zu tun", sagt Lale Akgün. "Für die CHP wäre es ein gefundenes Fressen, wenn für den Jungen eine Ausnahme vereinbart würde, die für einen türkischen Jungen in gleicher Situation nicht gemacht würde." In einem Monat sind in der Türkei nämlich Wahlen.