ABENDBLATT: Bedeutet Frankreichs Atomdrohung gegen Terrorstaaten tatsächlich eine Abkehr von seiner Nukleardoktrin?

PROF. ALFRED GROSSER: Nein, aber eine Veränderung. Vorher galt das Prinzip: Der Schwache gegen den Starken. Das bedeutet, es lohnt sich nicht für den Starken, Frankreich zu zerstören, weil das, was Frankreich bei dem zerstören kann, größer ist als Frankreich. Jetzt lautet das Prinzip: Der Starke gegen den Irren. Jeder Atomdrohung wird mit einer atomaren Gegendrohung begegnet.

ABENDBLATT: Könnte dieses Signal an den Iran kontraproduktiv sein, nämlich jetzt erst recht Atomwaffen anzuschaffen?

GROSSER: Das würde ich nicht sagen. Das Signal lautet: Wenn Teheran einmal in der Lage ist, Israel mit Atomwaffen zu bedrohen, dann kommt die Gegendrohung und der Iran wird zerstört. Teheran wird keinen Selbstmord begehen wollen.

ABENDBLATT: Zielt Chiracs Atomvorstoß auch darauf, im Nahen Osten als Global Player wieder wahrgenommen zu werden?

GROSSER: Nein, Chrirac will im letzten Jahr seiner Präsidentschaft noch einmal klarstellen, daß niemand an der Doktrin rütteln soll. Auch nicht Nicolas Sarkozy (Innenminister mit Ambitionen aufs Präsidentenamt, d. Red.), der gern daran rütteln würde. Ein Widerspruch besteht darin, daß Premier Villepin gerade in Berlin erklärt hat, Frankreich wolle eine gemeinsame Außenpolitik der EU. Chirac bekräftigt dagegen, daß Frankreich in Atomfragen allein entscheidet.

ABENDBLATT: Erste Reaktionen in Berlin sind skeptisch . . .

GROSSER: Der Vorstoß kam ja auch völlig unvorbereitet. In dem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß Chirac in Frankreich plötzlich den Militärdienst abgeschafft hatte, ohne sich vorher mit Deutschland abzustimmen - obwohl man Verbündeter war und Chirac wußte, wie sensibel diese Frage in Deutschland ist.

ABENDBLATT: Ist die Neigung zu Alleingängen eine Spezialität Chiracs oder Frankreichs?

GROSSER: Auch Präsident Mitterrand hat betont, daß Frankreich die Waffe zu seiner Verteidigung habe, nicht mehr und nicht weniger. Was doppelt falsch war. Denn man brauchte natürlich die Amerikaner und war zugleich in einem Bündnis. Ohne die USA wäre Europa der Sowjetunion ausgeliefert gewesen.

ABENDBLATT: Was hat Chirac zu seinem Vorstoß bewogen?

GROSSER: Das war wohl seine letzte Rede als Präsident zu diesem Thema. Er hat die Doktrin aufgefrischt, und davon kann kein Nachfolger abgehen.

ABENDBLATT: Treibt Chirac auch gekränkte Eitelkeit?

GROSSER: Das ist möglich. Er versucht jetzt aufzuholen, was er in den letzten neun Jahren versäumt hat. In Umfragen, wen sich die Franzosen als Präsidenten wünschen, bekam Chirac nur noch ein Prozent.