Karadzic: Seit 1995 wird der Ex-Serbenführer wegen Kriegsverbrechen gesucht. Jetzt scheiterten erneut Elitetruppen. Wer versteckt ihn? Und: Ist der Westen überhaupt noch an ihm interessiert?

Pale/Hamburg. Es war ein Uhr nachts, die meisten Menschen der kleinen bosnischen Stadt Pale bei Sarajevo hatten sich längst zur Ruhe begeben, als sie von knatternden Rotoren aus dem Schlaf gerissen wurden.

Zwei Militärhubschrauber landeten mitten im Ort, zwei Mini-Vans und ein unauffälliges Zivilfahrzeug rasten heran. Gleichzeitig riegelten Soldaten und einheimische Polizisten das ganze Gebiet ab. Spezialeinheiten, automatische Waffen im Anschlag, rannten im Schutz der Dunkelheit zu zwei Gebäuden - einer orthodoxen Kirche und dem daneben liegenden Refektorium, in dem drei Priester schliefen.

Sprengladungen ließen die Türen der Priesterwohnung zerstieben, die vermummten Soldaten stürmten ins Haus. Schreie ertönten und Schüsse krachten. Wenig später wurden der Priester Jermijah Starovlah und sein Sohn mit lebensgefährlichen Verletzungen zu einem Rettungshubschrauber getragen, der sie in ein Lazarett nach Tuzla flog. Während sich die rund 40 Mann der Spezialeinheit zurückzogen, rotteten sich zunächst Hunderte, später Tausende wütende Anwohner zusammen.

Ein Erfolg war dieser Einsatz der Bosnien-Stabilisierungstruppe SFOR nicht gerade. Der ganze Aufwand hatte nicht den Priestern, sondern einem der meistgesuchten Männer der Welt gegolten, der wie ein nicht fassbarer Schatten durch den Balkan geistert: Radovan Karadzic, Ex-Psychiater mit Hang zur Schizophrenie, ehemaliger Präsident der bosnischen Serben - und mutmaßlicher Kriegsverbrecher.

Zusammen mit seinem früheren Militärchef Ratko Mladic wird Karadzic vom UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag beschuldigt, mitverantwortlich für den Bosnienkrieg 1992 bis 1995 gewesen zu sein, dem 260 000 Menschen zum Opfer fielen. Beide gelten als Drahtzieher des schlimmsten Einzelverbrechens in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: des Massakers in der UNO-Schutzzone Srebrenica, wo eine serbische Soldateska 8000 männliche Muslime niedermetzelte - unter den Augen niederländischer UNO-Soldaten.

Sowohl Karadzic als auch Mladic, gegen die 1995 in Den Haag Anklage wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben wurde, sind untergetaucht. Zahlreiche Versuche der NATO-geführten SFOR, ihrer habhaft zu werden, scheiterten, wie die "Operation Daybreak" im Februar 2002 im Bergdorf Celebici. Und das, obwohl hoch trainierte Spezialeinheiten daran beteiligt sind. Man darf davon ausgehen, dass die Briten ihren "Special Air Service" (SAS) einsetzen, der zu den besten Sondereinheiten der Welt gehört. Auch das deutsche "Kommando Spezialkräfte" (KSK) war wiederholt auf dem Balkan im Einsatz, ebenso wie amerikanische Sondertruppen.

"Die gesuchte Person wurde nicht gefunden", kommentierte SFOR-Sprecher Dave Sulivan gestern lapidar die nächtliche Pleite. Doch wie ist es möglich, dass die mächtige NATO mit ihrem gigantischen Apparat an Aufklärung, Militärtechnik und Truppen nicht in der Lage ist, zwei bekannte Personen in einem Land von der Größe Niedersachsens zu fassen?

Drei Begründungen sind besonders häufig zu hören:

1. Karadzic sei eben schwer zu finden: Er bewege sich von einem Versteck zum nächsten, nutze Privatwohnungen von Anhängern oder Verstecke im Wald, habe sich einer Gesichtsoperation unterzogen oder ziehe in der Verkleidung eines Pfarrers umher. Tatsache ist jedoch, dass Karadzic auch noch nach 1995 für politische Ämter kandidierte und sich blicken ließ. Die Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla del Ponte, meint unter Berufung auf "zuverlässige Quellen", Karadzic genieße wie Mladic und 13 weitere gesuchte Kriegsverbrecher den Schutz Serbiens und sitze in Belgrad.

2. Die Festnahme Karadzics könnte in einem Blutbad enden, da er eine Truppe schwer bewaffneter Leibwächter um sich habe. Ob die überhaupt existiert, ist nicht gesichert. Zudem sind Eliteeinheiten auf die Ausschaltung solcher Gegner trainiert.

3. Die Ergreifung würde blutige Unruhen auslösen. In der Tat genießen Karadzic und Mladic bei vielen bosnischen Serben einen legendären Ruf. Karadzic ist Ideologe der noch immer schwelenden großserbischen Ambitionen. Außerdem saß - oder sitzt - er in einem geheimen Netzwerk aus politischer und wirtschaftlicher Macht, das gut am Krieg verdiente. Offenbar erhält Karadzic Hilfe von mächtigen Personen; auch Polizei und orthodoxe Kirche sollen ihn decken. Karadzic-Kalender hängen an Bushaltestellen, zu Weihnachten erhielten Tausende Serben gar einen SMS-Gruß von ihrem Idol.

Die beunruhigendste Frage ist jedoch, ob der Westen überhaupt ernsthaft daran interessiert ist, Karadzic zu ergreifen. Die US-Regierung wohl schon, denn dem bedrängten George W. Bush würde es helfen, wenn der Schlächter von Srebrenica unter amerikanischer Beteiligung gefasst würde. Allerdings soll US-Unterhändler Richard Holbrooke nach unbestätigten Berichten Karadzic damals zugesichert haben, er werde nicht verhaftet, falls er abtrete.

Unter der Hand ist zu hören, dass Deutschland aus einleuchtenden historischen Gründen nicht daran interessiert ist, an vorderster Front einer möglicherweise blutigen Militäroperation auf dem Balkan zu stehen.

Frankreich, aber auch Großbritannien wiederum spielen eine undurchsichtige Rolle. Beide Länder haben enge historische Bande zu den Serben. Immer wieder wurde von geheimer Kooperation mit Karadzic berichtet. 1998 musste ein französischer Major Sarajevo verlassen, nachdem er Karadzic vor dem Zugriff der SFOR gewarnt hatte. Der französische UNO-Verbindungsoffizier in der Serbenhochburg Pale, Geoffrey Beaumont, pflegte enge Kontakte zu Karadzic und besuchte nach dessen Untertauchen Karadzics Frau.

Immerhin tritt die US-Regierung inzwischen energischer in Sachen Karadzic-Festnahme auf. Und weil sich die Serben dazu taub stellen, hat Washington am Mittwoch millionenschwere Hilfsgelder eingefroren. Zudem sperrte die UNO mit Hilfe der USA die Konten von zehn Personen, die Karadzic finanziell unterstützt haben sollen, darunter der frühere bosnisch-serbische Präsident Mirko Sarovic. Karadzics Flucht vor der Justiz werde "bandenmäßig" durch Korruption, Geldwäsche und Erpressung finanziert, berichtete der internationale Bosnien-Verwalter Paddy Ashdown, ein Brite.

Carla del Pontes Stellvertreter Graham Blewitt entfachte erst kürzlich einen Sturm der Entrüstung, als er anmerkte, der Staatengemeinschaft fehle der politische Wille zur Festnahme Karadzics. Vielleicht können die neuen amerikanischen Ambitionen hier eine Änderung bewirken.