Judenfeindlichkeit ist nicht nur in der rechtsextremen Szene zu finden. Experten sehen sie auch in der Mitte der Gesellschaft breit vorhanden.

Hamburg/Berlin. Die junge Frau aus Hannover war gerade 19 Jahre alt. Niemand rechnete mit ihrem Sieg. Aber Lena Meyer-Landrut schaffte 2010 die Sensation und gewann den Eurovision Song Contest 2010. Mit ihrem Lied "Satellite" sammelte sie 246 Punkte. Doch nicht aus allen Ländern bekam sie Punkte. Unter anderem nicht aus Israel. Am Abend der Show tauchten in deutschen Internetforen und Blogs empörte bis hasserfüllte Kommentare auf. Nicht nur wurde Israel mit "den Juden" gleichgesetzt, bald darauf propagierten Nutzer, dass jüdische Unversöhnlichkeit die Ursache der verweigerten Anerkennung sein müsse. Einige Beiträge beschimpfen den jüdischen Staat, es finden sich antisemitische Verschwörungstheorien bis hin zu einer angedrohten Vernichtung Israels.

Für den vom Bundestag eingesetzten unabhängigen Arbeitskreis Antisemitismus ist dies ein "klassisches" Beispiel alltäglicher judenfeindlicher Gesinnung. Nach zweijähriger Arbeit haben die Experten gestern in Berlin den ersten Bericht vorgelegt. Die Ergebnisse sind alarmierend: Antisemitisches Gedankengut ist in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet. Der Studie zufolge sind 20 Prozent der Menschen in Deutschland "latent" antisemitisch eingestellt. Der Antisemitismus sei kein "Randphänomen" oder nur auf bestimmte Gesellschaftskreise beschränkt, hebt der Historiker Peter Longerich hervor, der dem Expertenkreis angehört. Er gründet sich auf Vorurteilen, Klischees oder "schlichtem Unwissen über Juden und Judentum".

Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet

So stimmt jeder sechste Deutsche laut einer Umfrage der Universität Bielefeld der Aussage zu: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss." Fast 40 Prozent der Befragten unterstellen, dass Juden versuchten, aus der Verfolgung in der Vergangenheit Vorteile zu ziehen. Für die Studie wurden über zehn Jahre jeweils etwa 2000 Menschen befragt. Die Autoren des Arbeitskreises stellen einen "Schuldabwehr-Antisemitisms" in Deutschland nach 1945 bis heute fest. Mit Phrasen von "endlosen Wiedergutmachungszahlungen" werde das althergebrachte Motiv vom "gierigen Schacherjuden" manifestiert. Diese judenfeindliche Einstellung ist bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verankert. Der "manifeste Antisemitismus" findet sich vor allem im rechtsextremen Lager. Mehr als 90 Prozent aller antijüdischen Straftaten gehen auf Täter aus diesem Milieu zurück.

Vor allem im Internet verbreitet sich offene Feindschaft gegen Juden und Israel - oft anonym und von den Behörden schwer zu kontrollieren. Auf der von Neonazis aus Hamburg betriebenen Seite " www.mein-hh.info " heißt es beispielsweise 2009 in einem Beitrag: "Keine Schiffe für Israel! Versenkt den Terrorstaat, aber nicht unsere Steuergelder." Daneben ist ein untergehendes Kriegsschiff mit einer israelischen Flagge an Bord abgebildet. Rechtsextremisten verstecken antisemitische Feindbilder hinter der Agitation mit "Israelkritik" und im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt.

Mitunter tragen Neonazis bei Demonstrationen sogar eine Palästina-Fahne oder ein Palästinensertuch - vor allem beim Neonazi-Aufmarsch am 1. Mai 2008 in Hamburg fiel dies erstmals stärker auf. Nach Angaben der Polizei waren 2010 von den 316 Straftaten von Rechtsextremisten in Hamburg 29 explizit antisemitisch motiviert.

In dem Bericht heißt es auch, dass rassistische und antisemitische Parolen auch auf Fußballplätzen an der Tagesordnung seien. Betroffen seien auch jüdische Vereine. "Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer", "Auschwitz ist wieder da" und "Synagogen müssen brennen" seien bei Wettkämpfen in der Regionalliga keine Seltenheit. Bei der Ausschreitung beim Schweinske-Cup im Januar in Hamburg hetzten "Fans" aus Lübeck mit "Judenkinder"-Rufen gegen Anhänger von St. Pauli.

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Doch nicht nur im rechtsextremen Milieu tritt offensiver Antisemitismus auf. Ende 2009 verhinderten linksextreme "Anti-Imperialisten" gewaltsam die Vorführung des Films "Warum Israel" des Regisseurs Claude Lanzmann im Kino B-Movie in St. Pauli. Hinter dem Übergriff standen Aktivisten aus dem Kreis des Internationalen Zentrums B5. Sie hetzten gegen den "zionistischen Propaganda-Film". Es gebe Antisemitismus unter Linksextremisten, aber keinen genuinen linksextremistischen Antisemitismus, stellt der Arbeitskreis in seinem Bericht fest. In linksextremer "Israelkritik" vor allem bei der Verantwortung im Nahostkonflikt ist auch von einem "Vernichtungskrieg" die Rede. Israel wird mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. In manchen linksextremen Gruppen werden Menschenrechtsverletzung und Mitschuld am Konflikt von palästinensischer Seite ignoriert - genauso wie bei Neonazis.

Ein "erhebliches Gefahrenpotenzial" geht der Studie zufolge vom politischen Islamismus aus, der eine extremistische Interpretation des Islam propagiere. Vor allem sprechen Islamisten Israel das Existenzrecht ab. Radikale Gruppen begründen die Hetze gegen den jüdischen Staat insbesondere mit religiös-politischen antisemitischen Stereotypen und auch mit dem Topos des "Raubes Palästinas". Der Iran, wo die Judenfeindschaft Staatsdoktrin ist, exportiert seine antisemitische Ideologie auch über internationale Buchmessen in Deutschland.

Antisemitismus findet sich an den extremen Rändern der Gesellschaft - genauso wie in dessen Mitte. Der Arbeitskreis plädiert für eine "umfassende Abwehrstrategie" zur Bekämpfung von Antisemitismus in Deutschland, die nicht nur auf Einzelgruppierungen zielen müsse, sondern auf die ganze Gesellschaft. Bisher erfolgten Maßnahmen "weitgehend uneinheitlich und unkoordiniert".