Identitätssuche acht Jahre nach dem wegweisendem Leizpiger Parteitag - am selben Ort, doch mit ganz anderen Themen und Vorzeichen.

Berlin. 12, 24, 36 Prozent. Mehr Steuerstufen sollte es nicht geben. Die Pendlerpauschale, der Sparerfreibetrag, die steuerfreie Schichtzulage - gestrichen. Die 1001 Delegierten, die vor acht Jahren in Leipzig dieses radikale Steuerkonzept verabschiedeten, durften sich zumindest für zwei Jahre so fühlen, als seien sie Deutschlands Reformmotor. Einstimmig nahmen sie beim Leipziger Parteitag das Konzept von Friedrich Merz an, damals noch Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag. Und sie hörten sich von Merz die Warnung an, dass man seine Vorschläge bloß nicht "aufweichen" sollte und dass man der "voranschreitenden Chaotisierung" des Steuersystems ein Ende setzen müsste.

Auch Angela Merkel applaudierte ihrem Finanzfachmann. Sie selbst kämpfte auf dem Parteitag um die Umstellung der Krankenversicherung auf eine einkommensunabhängige Kopfprämie. In Merkels CDU sollte es kein Feld geben, das nicht einen radikalen Neuanfang versprach.

Acht Jahre danach ist Friedrich Merz Geschichte, sein Konzept seit dem Beginn der Großen Koalition 2005 versenkt. Die CDU blockiert fast alle steuertechnischen Reformambitionen des Koalitionspartners FDP. Angela Merkel regiert seit sechs Jahren das Land. Von der Kopfpauschale des Jahres 2003 spricht sie seit Jahren nicht mehr.

Die Koalition mit der SPD hat bei der CDU-Chefin deutliche Spuren hinterlassen, aber noch mehr bei ihrer Partei. Einen "Reformparteitag", wie man das Treffen 2003 nannte, wird es ab Sonntag in der sächsischen Metropole sicher nicht geben. Der Mindestlohn steht auf der Agenda, dazu der Abschied vom dreigliedrigen Schulsystem. Es sind Themen, die vor acht Jahren auf einem christdemokratischen Parteitag undenkbar gewesen wären. Die CDU fährt 2011 einen sichtbar sozialdemokratischeren Kurs. Und das in einem Maße, dass die SPD in der Mindestlohndebatte von "Plagiat" spricht und der Kanzlerin eine Entkernung ihrer Partei bescheinigt (O-Ton Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann).

Nicht wenige in der Partei sprechen von "Ironie", dass ausgerechnet Leipzig der Ort werden soll, an dem der Sozialflügel der CDU mit seiner Forderung nach einer Lohnuntergrenze seinen größten Erfolg einfahren könnte. Als neoliberal empfanden die Arbeitnehmervertreter die CDU 2003.

Doch angesichts von milliardenschweren Hilfen für Banken und Rettungsfonds sehen sie ihre Zeit gekommen. Und während Merz seinerzeit als Galionsfigur der modernisierten CDU gefeiert wurde, dürfen am Montag der Vorsitzende der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft, Karl-Josef Laumann, und Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen mit größter Aufmerksamkeit rechnen. Auf welchen Kompromiss sich die Partei einlassen wird, ist noch nicht absehbar. "Eine einheitliche Lohnuntergrenze ist die bessere Lösung", ist Laumann überzeugt und bekommt dafür die Rückendeckung von der Leyens. Sie sagte der "tageszeitung": "Wir dürfen die Tariflandschaft nicht zersplittern in unzählige Mindestlöhne." Das schwäche den Schutz der Arbeitnehmer. Die Höhe des Mindestlohns müsse eine Kommission "eigenständig und unabhängig vom Staat" festlegen. So weit will die CDU-Chefin lieber nicht gehen.

Merkel hält branchenspezifische und regionale Lösungen für das bessere Modell. Der Antrag des Arbeitnehmerflügels sieht neben der Gründung einer Lohnfindungskommission die grundsätzliche Lohnuntergrenze auf Höhe des Zeitarbeits-Mindestlohns vor: rund sieben Euro in der Stunde im Osten und knapp acht Euro im Westen. Selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble liebäugelt mit diesem Vorschlag und hält eine Mehrheit für möglich. Die Debatte am Montagabend könnte der Höhepunkt des Parteitags werden, zumal der Wirtschaftsflügel der CDU die Annäherung an Mindestlöhne mit Bauchschmerzen verfolgt und sich der FDP in ihrer Ablehnung tiefer verbunden fühlt als der eigenen Parteimitte.

Prominente Vertreter hat der wirtschaftsnahe und konservativere Flügel der Partei ohnehin nicht mehr aufzubieten. Der frühere Parteivize Roland Koch hat der Politik den Rücken gekehrt und leitet lieber den Baukonzern Bilfinger Berger. Auch der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus, einst als konservative Hoffnung der Partei gepriesen, hat sich zurückgezogen. Nur noch Hessens Regierungschef Volker Bouffier versucht wacker, sich über Mindestlöhne und die schleichende Abkehr von der Hauptschule aufzuregen. Doch kaum jemand springt ihm zur Seite.

Den Leitantrag, der die Aufweichung des dreigliedrigen Schulsystems vorsieht, empfinden die CDU-Konservativen einmal mehr als weiteren Verlust eines christdemokratischen Markenkerns. Die künftige CDU-Bildungspolitik setzt auf zwei Säulen: das Gymnasium und die Oberschule, in der die Real- und Hauptschule aufgehen sollen.

In die Phase der christdemokratischen Selbstfindung platzt kurz vor dem Parteitreffen ein weiterer Streit. Die Frauen-Gruppe in der Unionsfraktion läuft Sturm gegen das geplante Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen wollen statt sie in staatliche Betreuung zu geben. Ein Krisentreffen mit Fraktionschef Volker Kauder brachte am Freitag nur geringe Fortschritte. Das konservative Geschenk, das Merkel auch der CSU machen wollte, findet bei den eigenen Familienpolitikern kaum Anklang. Der Beschluss sieht vor, 2013 einen Betrag von 100 Euro für Zweijährige zu geben. 2014 erhalten Eltern dann 150 Euro für zwei- und dreijährige Kinder. Die Debatte hat die CDU kurz vor Leipzig kalt erwischt. Generalsekretär Hermann Gröhe versuchte sich in einem Machtwort: "In der CDU wird diskutiert über das Wie des Betreuungsgeldes und einer solchen Anerkennung, nicht über das Ob", sagte er. Gröhe erinnerte auch daran, dass die CDU selbst auf einem Parteitag das Betreuungsgeld beschlossen hatte. Doch bekanntlich spielen Beschlüsse von gestern in der CDU von heute kaum noch eine Rolle.