Hamburg/Berlin. Im Sommer 2013 begleitete das Abendblatt den SPD-Politiker im Wahlkampf. Jetzt besuchte Peter Wenig den Abgeordneten in Berlin.

Am Ende des Tages, nach 14 Stunden Polit-Akkord mit Fraktions- und Ausschusssitzungen, mit Interviews und Büroarbeit, hat Metin Hakverdi, 46, nur noch einen Wunsch: Fußball zu gucken. Gegenüber dem Berliner Hauptbahnhof werden der SPD-Bundestagsabgeordnete und sein Mitarbeiter Muammer Kazanci endlich fündig. Auf der TV-Leinwand flimmert die zweite Halbzeit des HSV-Spiels in Ingolstadt, noch steht es 0:0, der Putzmann feudelt schon die Fliesen. Hakverdi spannt am Tisch den Bogen zwischen Griechenland, Flüchtlingen und US-Leitzinsen – und schaut erst wieder zum Fernseher, als sein HSV den Siegtreffer feiert. Nein, abschalten von der Politik, das wird an diesem Abend klar, kann er einfach nicht. Nicht einmal als Fußballfan.

Das Team des SPD-Abgeordneten Metin Hakverdi (l.) in dessen Berliner Büro: Muammer Kazanci und Fabian Müller Foto: Peter Wenig
Das Team des SPD-Abgeordneten Metin Hakverdi (l.) in dessen Berliner Büro: Muammer Kazanci und Fabian Müller Foto: Peter Wenig © Peter Wenig | Peter Wenig

14 Stunden später ist der Rahmen ungleich repräsentativer. Mittagessen im Restaurant der Parlamentarischen Gesellschaft, einem über 100 Jahre altem Palais vis-à-vis des Reichstags, mit Kronleuchtern, Marmor und Kassettendecken. Im wohl exklusivsten Club der Hauptstadt dürfen nur Bundestags- und Landtagsabgeordnete mit ihren Gästen speisen. Als der Kellner die Ochsenschwanzsuppe serviert, schiebt Metin Hakverdi Smartphone und Computer zur Seite, das betagte Klapp­handy bleibt auf Empfang in der Tasche des Jacketts. 70 Minuten hat er sich an diesem Mittag für das Abendblatt freigeschaufelt; soeben endete seine Sitzung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, ein zweistündiger Parforceritt durch 27 Tagesordnungs- ­punkte, von Kartellstrafen über die Sicherheitslage auf hoher See bis zum Bericht des Wehrbeauftragten.

Seit zwei Jahren gehört er also nun zum erlesenen Kreis der 630 Volksvertreter in Berlin. Hakverdi lacht, wenn er an seine erste Rede im Februar 2014 denkt: „Ich war so nervös, dass ich in der Nacht zuvor in den Reichstag wollte, um zu prüfen, ob das Pult groß genug für mein Manuskript ist.“ Ein Polizist ließ ihn passieren, Hakverdi durfte um Mitternacht im zwar erleuchteten, aber menschenleeren Saal proben.

Metin Hakverdi war immer auf der Genossen-Überholspur unterwegs

Neun weitere Male hat Hakverdi seitdem im Bundestag gesprochen, zur Mietpreisbremse, zum Datenschutz, zur EU-Bilanzrichtlinie – öfter als in fünf Jahren Hamburger Bürgerschaft. „Der Welpenschutz“, sagt Hakverdi, „ist längst vorbei.“ Gewollt hat er ihn ohnehin nie, Hakverdi war seit seinem Parteieintritt 2001 immer auf der Genossen-Überholspur unterwegs. Auf dem Weg nach Berlin setzte er sich dank intensiver Netzwerke und unbändigen Ehrgeizes gegen favorisierte SPD-Granden durch. Wer auf dem Weg nach Berlin bei 17.000 Hausbesuchen drei Paar Schuhe abgelaufen hat, kann dort mit einer Hinterbänkler-Karriere nicht zufrieden sein. Die Chance einer Rede im Bundestag ablehnen? „Nein“, sagt Kazanci, „das machen wir nicht.“

Auch wenn es bedeutet, dass man die Nacht durcharbeiten muss. Der Lohn für all den Einsatz ist die Mitgliedschaft in den wichtigen Ausschüssen Finanzen und Recht, zudem sitzt Hakverdi im Finanzmarktgremium, das sich mit der Lösung der Bankenkrise beschäftigt – viel mehr geht nicht für einen Frischling. Die Ämterfülle verlangt mitunter unkonventionelle Lösungen: Tagen seine Ausschüsse gleichzeitig, schickt er einen Mitarbeiter als Double, der ihn sofort per SMS alarmiert, wenn es brisant wird.

An diesem Nachmittag eilt Hakverdi in den Rechtsausschuss zur öffent­lichen Anhörung zum Thema Sterbe­begleitung. Er ist spät dran, die Ausschussvorsitzende Renate Künast (Die Grünen) erklärt bereits das Reglement. Höchstens fünf Minuten Redezeit für jeden Experten, maximal zwei Fragen für jeden Abgeordneten. Zwölf namhafte Juristen, Theologen und Mediziner mit insgesamt 21 akademischen Titeln sezieren die vier vorliegenden Gesetzentwürfe. Eine gigantische Digitaluhr an der Decke stoppt die Redezeit, nach fünf Minuten werden die Ziffern rot. Und spätestens nach einer Minute Überziehung schaut Künast reichlich genervt.

Vier Stunden dozieren die Koryphäen über „negatives Grundrecht auf Leben“, „ärztliche Suizidhilfe“ und „geschäftsmäßige Sterbehilfe“. Ein Jurist erklärt einen Entwurf für „offensichtlich verfassungswidrig“, sein Kollege sagt, davon könne nun wirklich keine Rede sein. Zwölf Experten, zwölf Meinungen. Wem soll man nun glauben? Wer hat recht?

Nach dieser Sitzung über Leben und Tod müsste man eigentlich durchatmen, den Kopf lüften. Aber der Politikbetrieb gönnt keine Pause. Hakverdi eilt zurück in sein Abgeordnetenbüro. Er könnte die Fahrbereitschaft nutzen, eine Armada schwerer Audi-Limousinen parkt direkt vor dem Reichstag. Aber er liebt diesen zehnminütigen Fußweg durch das Brandenburger Tor zum Abgeordnetenhaus am Boulevard Unter den Linden: „Geschichtsträchtiger geht es einfach nicht.“

Der Marsch durch die Institutionen kann schon mal zum Sprint werden

In seinem Büro im zweiten Stock warten schon seine Mitarbeiter Kazanci, 39, und Fabian Müller, 28. Lage­besprechung. Wie weit ist der Bericht, den Hakverdi nach jeder Sitzungs­woche an die Genossen im Wahlkreis mailt? Welche Themen stehen in den Ausschüssen an? Wie ist die Lage in den Flüchtlingsunterkünften im Wahlkreis? Immerhin droht heute keine Gefahr von der Uhr, die auf dem Flur hängt. Schlägt sie vor namentlichen Abstimmungen im Reichstag Alarm, wird der Marsch durch die Institutionen schon mal zum Sprint.

Kazanci reibt seine roten Augen: „Sitzungswochen sind hart, 16-Stunden-Tage keine Seltenheit.“ Sehnsüchtig schaut er auf die Ledercouch, übernommen vom Vormieter, einem FDP-Politiker, der mit seiner Partei 2013 aus dem Bundestag flog. Kazanci, wie Hakverdi Volljurist mit türkischen Wurzeln, organisierte schon im Genossen-Ehrenamt den Wahlkampf seines Freundes. Politologe Müller arbeitete zuvor als Student für einen SPD-Bundestagsabgeordneten. 50 bis 100 Mails täglich, dazu Papierberge, allein der Haushaltsentwurf aus dem Finanz­ministerium stapelt sich auf 20 Zentimetern. „Kein Abgeordneter kann das alles lesen“, sagt Müller. Mit Kazanci scannt er jeden Tag die Einladungen für Hakverdi, allein 15.000 Lobbyisten buhlen in Berlin um die Gunst der Abgeordneten.

Weit oben auf der Hauptstadt-Agenda steht derzeit das Thema CSR (Corporate Social Responsibility), es geht darum, wie Unternehmen verpflichtet werden können, umweltfreundlicher, nachhaltiger und mitarbeiterfreundlicher zu werden. Klingt sperrig, hat aber milliardenschwere Auswirkungen, da Deutschland die entsprechende EU-Richtlinie bis Dezember 2016 umsetzen muss. Hakverdi hat gleich zwei Termine zu diesem Thema. Am Abend bittet der Textilriese H&M zum Gedankenaustausch, am nächsten Morgen lädt die Umweltorganisation WWF zum Frühstück. Die Frontlinien scheinen klar, hier das Kapital, das vor zu viel Bürokratie warnt, dort die Umweltlobby, die für mehr Ökologie streitet. „Sie werden sehen, so einfach ist das nicht“, sagt Hakverdi beim Gang in den Raum „Bayern“ der Parlamentarischen Gesellschaft.

Und in der Tat outet sich der H&M-Manager als absoluter CSR-Fan („Mein erstes Wort jeden Morgen ist Nachhaltigkeit“), bei der Diskussionsrunde klagt die eingeladene Vertreterin des Internationalen Gewerkschaftsbunds über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Textilindustrie in Bangladesch. Beim WWF-Frühstück am nächsten Morgen im Bistro der Bundespressekonferenz wird zwar Bioapfelsaft ausgeschenkt, die aufgefahrenen Kronzeugen sind indes von Ökofundis so weit entfernt wie die Grünen von der Alleinregierung in Berlin. Zunächst analysiert die Gutachterin des Wirtschaftsprüfungsriesen KPMG, warum sich eine klimafreundliche Strategie für Unternehmen rechnet, dann erklärt die Geldanlage-Managerin, wieso nachhaltig arbeitende Konzerne attraktiver sind.

Die Strippenzieher der Macht arbeiten subtiler

Am Ausgang gibt es wie schon am Abend zuvor bei H&M nur Papierstapel, jeder Lobbyist weiß, dass Abgeordnete teure Geschenke eh nicht annehmen dürfen. Die Strippenzieher der Macht arbeiten subtiler. Als die Deutsche Bank den Finanzausschuss zum Hintergrundgespräch bat, konnte Hakverdi sofort ins Genossen-Du wechseln. Ausgerechnet an seinem Tisch saß – natürlich alles andere als zufällig – quasi sein Banker-Klon. Türkischstämmig, Aufsteiger, Akademiker, SPD-Mitglied.

Nach dem WWF-Termin wird wieder im Büro beraten. „Was meint ihr, kann ich mir es leisten, mitten in der Sitzungswoche für ein paar Stunden zum Schulfest in meinen Wahlkreis zu fahren?“, fragt Hakverdi sein Team und knetet den kleinen Basketball – Reminiszenz an einst erfolgreiche Tage als Korbjäger in Wilhelmsburg.

Schule reizt ihn immer, niemand weiß besser, dass Bildung das wichtigste Scharnier für den Aufstieg aus einem sozialen Brennpunkt ist. Hakverdi, Sohn eines Schneiders aus Anatolien, der bis zu seinem Tod Analphabet blieb, wechselte von der Grundschule auf Drängen der Mutter ohne Empfehlung auf das Gymnasium, erhielt später sogar ein Stipendium in den USA. Aufstieg verpflichtet, für die Anliegen der Schulleiter in seinem Wahlkreis hat er immer ein offenes Ohr.

An einem Sonntag im September bittet Hakverdi zur Einweihung seines neuen Wilhelmsburger Büros an der Veringstraße, das er gemeinsam mit einem Genossen der Hamburger Bürgerschaft führt. An der Decke hängen rote SPD-Luftballons, in Keramikwannen köcheln Reis und türkisches Gulasch, über 100 Parteifreunde sind gekommen zu Hakverdis Heimspiel. Die Georg-Wilhelm-Straße liegt nur ein paar Minuten entfernt. Es ist seine Straße, nur die Hausnummern haben sich bei seinen Umzügen geändert, gerade erst ist er mit seiner Freundin in eine größere Wohnung gezogen. „Den Metin kriegen Sie hier nicht mehr weg“, sagt seine Lebensgefährtin, wissenschaftliche Mitarbeiterin eines SPD-Bürgerschaftsabgeordneten.

Kennengelernt haben die beiden sich – wo auch sonst – auf einer Parteiveranstaltung. „Metin ist ein Menschenfänger“, sagt sie. Aus Jux hat sie ihn neulich einmal geneckt: „Behandele mich doch mal wie eine Wählerin.“ Und in der Tat ist es vielleicht Hakverdis größte Gabe, dass er auch bei diesem Trubel authentisch bleibt, es gibt keine aufgesetzte „Ich bin euer Metin, ich bin für euch da“-Rolle.

Manche Wähler glauben, Hakverdi könne als Abgeordneter alles regeln

Geduldig macht er Selfies mit den Genossen, sagt sofort zu, als ihn der Vorstand vom Kleingartenverein fragt, ob er denn auch zum Skatturnier im November komme, er sei fest gebucht. Zwischen Diskussionen um Flüchtlingsunterkünfte und Griechenland-Hilfen ermuntert er noch einen Abiturienten, sich um ein Praktikum in seinem Berliner Büro zu bewerben: „Schick mir deine Unterlagen.“

Die Kehrseite der Medaille erlebt sein Vertrauter Kazanci: „Viele glauben, dass Metin alles für sie regeln kann.“ Kazanci hat dann mit seinem Kollegen Müller den undankbaren Job, Wählern zu erklären, warum auch ein Bundestagsabgeordneter nicht den Hartz-IV-Satz erhöhen oder mal eben einen Schrebergarten besorgen kann. Bei kniffligen Anfragen recherchieren sie mitunter Stunden bei Experten in Ministerien. Wirklich genervt sind sie nur, wenn bei einer Party mal wieder die Platte vom faulen, abgehobenen Volksvertreter aufgelegt wird.

Nur: Wie lange hält ein Mensch das aus? Die Marathonsitzungen, den Termindruck, dieses Fast-nie-abschalten-Können, den Frust, wenn wieder eine Griechenland-Sondersitzung alle Urlaubspläne schreddert. Hakverdi kennt die Leidensgeschichten von Berufspolikern, von Burn-out und Drogensucht. Er selbst achtet sehr auf sich, trinkt kaum Alkohol, das Rauchen hat er vor einem Jahr aufgegeben. Seine Droge ist dieses ständige Pendeln zwischen der großen Politikbühne der Hauptstadt und Plakatekleben im Wahlkreis, zwischen Schattenbanken und Genossen-Preisskat, zwischen Kronleuchterrestaurant und der Dönerbude in Wilhelmsburg.

Zum Abschied sagt er: „Nennen Sie mir einen anderen Job, wo man binnen kurzer Zeit in Peking mit einem Minister über Menschenrechte diskutieren kann, in den USA über Leitzinsen spricht, in Berlin über Sterbebegleitung verhandelt und sich in Harburg um Flüchtlinge kümmern kann.“

Nein, Hakverdi will kein anderes Leben. Er lebt seinen Traum.