17.000 Hausbesuche und drei Paar durchgelaufene Schuhe: Der Wihlemsburger SPD-Politiker ist Hamburger Direktkandidat im Bundestag

Die letzten Meter zum großen Ziel sind dann ganz leicht. Aus dem Hauptbahnhof am Kanzleramt vorbei zum Reichstag, dessen mächtige Kuppel an diesem Montagmittag im Berliner Nieselregen liegt. Doch das kann die Laune von Metin Hakverdi ebenso wenig trüben wie der kleine Fleck auf dem Jackett – Spur der Siegesfeier mit den Bergedorfer Jusos in der Nacht zuvor. „Guten Tag, mein Name ist Metin Hakverdi. Ich bin gestern als Abgeordneter gewählt worden“, sagt der Rechtsanwalt am Eingang. „Habe ich schon gelesen, Sie können reingehen“, sagt die Dame am Empfang und will nicht einmal den Ausweis sehen.

Metin Hakverdi, Sohn eines anatolischen Schneiders, der als Analphabet starb, und einer Sekretärin aus Mecklenburg-Vorpommern, hat es geschafft. Aus Wilhelmsburg, der Elbinsel mit dem Image des sozialen Brennpunkts, rein ins Herz der Hauptstadt. Gemeinsam mit 629 Bundestagsabgeordneten wird er künftig mitentscheiden über Euro, Rente und Steuern.

Es war ein harter Weg zur Macht.

Ein später August-Nachmittag in Eißendorf im Harburger Süden. An der Ecke Eißendorfer Straße/Weusthoffstraße klappt Olaf Paulsen, stellvertretender SPD-Ortsvereinschef, den roten Sonnenschirm mit weißen SPD-Lettern auf. Schutz für 13 Genossen vor dem prasselnden Regen. „Moin! Danke, dass ihr gekommen seid“, sagt Metin Hakverdi, braunes Cord-Jackett, kariertes Hemd, Jeans. In einer Drogerie hat er noch schnell fünf blaue Regenschirme besorgt, die Preisschilder baumeln an den Griffen. Ein ganzer Stapel Flyer mit seinem Konterfei rutscht in eine Pfütze, Paulsen wirft das unbrauchbare Material in den Kofferraum seines Kombis.

Viel schlechter kann die Klingeltour durch den Wahlkreis nicht beginnen. Das erste mentale Tief gab es bereits am Morgen mit der Nachricht, dass Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in den Umfragen weiter abgerutscht ist. Paulsen predigt gegen schlechte Stimmung und schlechtes Wetter: „Was bundespolitisch schiefläuft, können wir nicht beeinflussen. Aber hier geht es um Metin. Wir kämpfen um jede Stimme.“ Hakverdi legt nach: „Heute wird es ganz einfach. Den Leuten wird imponieren, dass wir bei diesem Regen überhaupt unterwegs sind.“ Dann gibt er letzte Anweisungen: „Wir gehen nicht in die Wohnung, wir sabbeln niemanden zu.“ Nur acht Sekunden, sagt er dann, solle der Besuch dauern. Begrüßung, Flyer und Kugelschreiber übergeben – und fertig. In Zweier-Teams ziehen die Wahlkämpfer los.

Dann die erste Etappe im Häuserkampf. 50er-Jahre-Backsteinbau, vier Etagen. Hakverdi drückt mehrere Klingeln, der Türöffner summt. Während der Politiker die Treppen hinaufspurtet, öffnet sich oben ein Fenster. „Was wollt Ihr denn hier? SPD? Brauche ich nicht“, bölkt ein älterer Mann im weißen Unterhemd. Immerhin, die Frau im Erdgeschoss links ist ungleich freundlicher, freut sich über den Kugelschreiber. Fünf Minuten später ist der rote Protokollzettel mit der Strichliste der Klingeltour längst durchgeweicht. Den Schirm spannt Hakverdi gar nicht mehr auf, kostet zu viel Zeit.

Nach 20 Minuten klebt die nasse Kleidung auf der Haut. Und es bleibt die Frage: Was soll das eigentlich bringen? Das Klingeln jeden Montag und Mittwoch quer durch den Wahlbezirk, das tausendfache Aufsagen der Sätze: „Mein Name ist Metin Hakverdi. Ich bin Nachfolger von Hans-Ulrich Klose. Am 22. September ist die Bundestagswahl.“

„Ich habe das alles schon einmal genauso gemacht“, antwortet Hakverdi, „und zwar mit großem Erfolg.“ Schon bei der Bürgerschaftswahl 2008 klingelte er sich ins Hamburger Parlament. 7000 Haus- und Wohnungstüren schaffte er damals – und holte als Nummer drei der SPD-Wahlliste mit Abstand die meisten Stimmen. „Die Leute wollen den persönlichen Kontakt“, sagt Hakverdi. Obama habe es schließlich auch so gemacht. Mit dem feinen Unterschied, dass der Präsidentschaftskandidat klingeln ließ.

Ein paar Straßen weiter ist der schillernde US-Wahlkampf so fern wie eine Alleinregierung der SPD in Berlin. Vor der Kneipe Löschecke am Hirschfeldplatz stehen ein paar Raucher, die Speisekarte empfiehlt Currywurst, wahlweise mit Bratkartoffeln (4,60 Euro) oder Butterbrot (4,10 Euro). Innen öffnet eine Schiebetür den Blick auf einen kleinen Saal. Eine betagte Kühltruhe brummt, die Wände sind mit einer Dartscheibe und vergilbten Schützen-Urkunden dekoriert. „Klassische SPD-Hinterzimmer-Atmosphäre“, sagt Genosse Paulsen und lacht. Einmal im Monat treffen sich hier Eißendorfs SPD-Mitglieder, von den 96 kommen selten mehr als 15. Und doch wurde an den braunen Holztischen im Herbst 2012 Geschichte geschrieben. Denn in der Löschecke entschied sich das Rennen um die SPD-Direktkandidatur für den Wahlkreis Bergedorf, Harburg, Wilhelmsburg. Mehrere Partei-Granden hatten offen für Harburgs SPD-Vorsitzenden Frank Richter oder den Bundestagsabgeordneten und ehemaligen SPD-Landeschef Ingo Egloff plädiert, Hakverdi galt als Außenseiter.

Eißendorfs SPD bat jeden Kandidaten zu Einzelgesprächen und entschied: Wir stimmen geschlossen mit acht Stimmen für Metin, er ist der Beste. Dank des Löschecken-Votums gewann Hakverdi mit 73 Stimmen knapp vor Richter (70 Stimmen) und Egloff (22 Stimmen). Ein Hamburger Spitzengenosse, der Richter lange kennt, sagt: „Franks Lebenstraum wurde zerstört.“

Es gehört zu den Absurditäten der Politik, dass ausgerechnet Richter nun als Chef der Wahlkampfkommission seinen Rivalen zum Sieg im Wahlkreis führen soll. An einem sonnigen August-Nachmittag begrüßt Richter die Genossen im Harburger Herbert-Wehner-Haus zum Kaffeeklatsch mit Hakverdi und Hans-Ulrich Klose. Die Tische sind mit Papiertüchern bedeckt, es gibt Bienenstich und Butterkuchen. Unter der alten SPD-Flagge, bestickt mit „Freies, gleiches und direktes Wahlrecht“, sitzen Hakverdi, Richter und Klose in roten Sesseln. Der scheidende Bundestagsabgeordnete Klose, 76, seit 1983 für den Wahlkreis im Bundestag, trifft auf seinen mehr als drei Jahrzehnte jüngeren Nachfolger – ein wirklich spannender Generationen-Termin. Richters Job als Moderator ist eigentlich ganz einfach. Er muss Klose und vor allem Hakverdi, Harburgs Hoffnung für Berlin, gut aussehen lassen. Doch statt Doppelpass mit den Gästen zu spielen, versucht sich Richter in der Spielmacherrolle. Er räsoniert zunächst zwei Minuten und elf Sekunden über seine Sicht des Konflikts in Ägypten, später folgt ein langatmiger Exkurs über den NSA-Abhörskandal. Immerhin gewohntes Terrain für Klose, im Bundestag gilt er als ausgewiesener Außenpolitiker. Hakverdi kommt dagegen nicht so richtig ins Spiel, seine Kompetenz bei lokalen Themen – etwa beim Baufiasko der Elbphilharmonie, wo Hakverdi als Obmann im Untersuchungsausschuss arbeitet, – bleibt unerwähnt. Nach dem Talk klönt der Kandidat noch mit Genossen, während Klose wie ein Popstar vor allem Fotowünsche erfüllt.

Der Name des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters fällt oft in diesem Wahlkampf. Hakverdi geht es ein bisschen wie neuen HSV-Stürmern, die stets an den Idolen Uwe Seeler und Horst Hrubesch gemessen werden. Nostalgie ist nicht fair, wie soll ein 44 Jahre alter Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft den Vergleich mit einer Legende aushalten? Klose war mit 36 Innensenator, mit 37 Bürgermeister, jüngster Regierungschef eines Bundeslandes der deutschen Geschichte, dann drei Jahrzehnte Bundestagsabgeordneter mit bis zu 55 Prozent Stimmenanteil. Auch Olaf Scholz kann sich den Griff in die Historie nicht verkneifen. Als er vor einer Wahlveranstaltung am Michel mit Peer Steinbrück jeden Hamburger SPD-Direktkandidaten auf die Bühne holt, sagt er feixend: „Metin, du trittst ja in ganz schön große Fußstapfen.“ Die Anspielung gilt nicht nur Klose. Denn vor dem Bürgermeister verteidigte Herbert Wehner den Harburger Wahlkreis 34 Jahre. Und streng genommen gehört auch Helmut Schmidt in diese Reihe, von 1969 bis 1987 Abonnementssieger im damals noch abgetrennten Wahlkreis Bergedorf.

Wehner, Schmidt, Klose – mehr Sozi-Tradition geht nicht. Wie groß der Schatten wirklich ist, zeigt sich, als Klose im Harburger Stellwerk verabschiedet wird. Im abgedunkelten, überfüllten Saal wirft ein Beamer Fotos von Klose und geballter Prominenz wie Willy Brandt, Helmut Kohl, Kofi Annan und Barack Obama auf die Wand hinter der Bühne. Als Klose über seine Laufbahn redet, sich für sein Querdenkertum entschuldigt: („Ihr hattet es nie leicht mit mir“), werden die Augen mancher Genossen feucht.

Am Ende schreitet Klose dann zu dem Mann, der ganz links in der ersten Reihe sitzt. „Metin“, sagt Klose, „ich drücke dir die Daumen. Entwickele politische Leidenschaft und vergesse nie das Zuhören.“ Der Händedruck wirkt wie eine Staffelübergabe. Und mit einem Mal wird klar, welches enorme persönliche Risiko Metin Hakverdi mit seiner Kandidatur eingegangen ist. Verliert er den Wahlkreis, endet eine Ära in Rot von über sechs Jahrzehnten.

Entsprechend angespannt wirkt er nach der Klose-Rede, als Brezel und Bier gereicht werden. „Was hat der Uli für eine Biografie! Mit ihm kann ich mich doch gar nicht vergleichen.“ Nein, Hakverdi muss seine eigenen Stärken ausspielen, vor allem seine Menschenfänger-Qualitäten und seine Bürgernähe. „Metin ist der nette Junge von nebenan“, sagt der Harburger Manuel Sarrazin von den Grünen: „Er ist der Typ zum Anfassen, der glaubwürdig Klinken putzt. Ich könnte das nicht.“ Hans-Ulrich Klose sagt sogar, „dass der Metin für den Wahlkreis ein besserer Abgeordneter werden kann, als ich es je war“. In der Disziplin Wahlkampf-Einsatz galt in der Hamburger SPD in den vergangenen Jahren Johannes Kahrs als unerreicht, jedes Jahr karrt er allein 80 Reisebusse mit Wählern nach Berlin. Aber auch Kahrs sagt: „Was Metin rödelt, ist der absolute Wahnsinn.“

Nettelnburg, S-Bahn-Station, ein Donnerstag im August, 7.30 Uhr. Mit drei Helfern drückt Metin Hakverdi Passanten seine Flyer in die Hand. Es ist bereits die zweite Station, an der S-Bahn-Station Allermöhe haben sie schon um 6.30 Uhr verteilt. „Operation Morgenröte“ nennt das die SPD. „Viele machen den Fehler, zu spät zu verteilen, und erreichen dann die Pendler nicht mehr“, sagt Hakverdi. Zu spät aufstehen, das kann ihm nicht passieren.

Dabei war die Nacht wie immer kurz, fast jeden Abend ist er in diesen Tagen unterwegs. Kunstausstellungen, Vereinstreffs, Ortsvereinsbesuche – der Terminkalender in seinem Smartphone kennt kaum noch Lücken. An diesem Morgen hat er zwei Jusos und einen Rentner mobilisiert. Er lädt die Genossen anschließend in die benachbarte Bäckerei ein, fischt auf dem Weg zwei weggeworfene Flyer aus einer Pfütze. „Es ist ganz einfach wichtig, dass man den Platz sauber hinterlässt, sonst macht das einen schlechten Eindruck“, sagt Hakverdi.

Der ältere Genosse gibt beim Kaffee aus Pappbechern zu, dass er Egloff gewählt hatte. „Der Metin hat mir zu sehr ins Mehl gehauen“, sagt er. Hakverdis Versprechen, einen Wahlkampf wie noch nie in diesem Wahlkreis hinzulegen, habe er ihm einfach nicht geglaubt. Doch jetzt sei er überzeugt: „Metin gibt wirklich alles für die Partei.“

Hakverdi nickt zufrieden. Die eigenen Genossen zu überzeugen, das war vielleicht der schwierigste Job im Wahlkampf. Eine Partei, die wie keine andere den Wert Solidarität auf ihre Fahnen schreibt, hat traditionell ein Problem mit Genossen auf der Überholspur, mit Aufsteigern, die an verdienten Parteisoldaten wie Egloff und Richter einfach vorbeiziehen. Schon im April 2012, sieben Monate vor der Delegiertenwahl, hatte Hakverdi seinen Hut in den Ring geworfen: „Das war riskant. In der Partei habe ich mir damit nicht nur Freunde gemacht.“ Aber er brauchte diese Monate für den Vorwahlkampf, fürs Netzwerk-Weben, vor allem mit der Bergedorfer SPD, für die er fast ein Niemand war.

Chancen hat Hakverdi schon oft einen Tick früher erkannt als die Konkurrenten. Nach der Wahl in die Bürgerschaft 2008 bewarb er sich um den Job als Schriftführer im Präsidium der Bürgerschaft. Der Job klingt zwar so attraktiv wie Tafelputzdienst in der Schule. Aber seitdem sitzt er neben den Präsidiumskollegen erhöht, gleich hinter dem Rednerpult, immer im Blick der Kameras. Und sein Konterfei im Schaukasten des Rathauses ist dreimal so groß wie das der anderen Abgeordneten.

Hakverdi entschied sich für die Arbeit in den zentralen Ausschüssen, zunächst HSH Nordbank, dann Elbphilharmonie, die immer für Schlagzeilen gut sind. Dort, das sagen auch Abgeordnete der Konkurrenz, mache Hakverdi mit seiner hartnäckigen Fragetechnik einen guten Job. „Da profitiere ich von meinen Erfahrungen in Gerichtssälen“, sagt Hakverdi.

Wer sich so engagiert, muss woanders Abstriche machen. Niemand weiß dies besser als Cem Sengül. Der Prädikatsjurist, Spezialgebiet Wirtschaftsrecht, hat vor zwei Jahren seine sichere Zukunft in einer großen Kanzlei gegen eine Anwalt-Partnerschaft mit Hakverdi getauscht, gemeinsam residieren sie auf 60 Quadratmetern im vierten Stock eines Bürobaus in der Nähe des Altonaer Bahnhofs.

Aber was heißt schon gemeinsam? Sengül ackert seit Monaten für zwei, 14-Stunden-Tage sind keine Seltenheit, erst recht seit Hakverdis Nominierung. Am 1. März räumte Hakverdi sein Büro, um sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren – die Sekretärin nutzt es inzwischen als Raucherzimmer. Fast bewundernd schaut Sengül seinen Partner bei dessen Stippvisite an: „Natürlich wäre es für die Kanzlei besser, wenn Metin zurückkehren würde. Aber ich wünsche ihm so sehr, dass er den Sprung nach Berlin schafft.“

Wer in der Politik nach oben will, braucht solche Freunde. An einem warmen August-Sonnabend zieht intensiver Kleber-Geruch durch einen großen Keller eines Hochhauses in Nettelnburg. Juso Nils Springborn, 25, rührt Kleister in einem weißen Eimer an. In dem Keller regiert Chaos aus Wahlkampftischen, SPD-Schirmen und Flyern, auf einer Stellwand klebt noch ein Plakat von Michael Naumann, gescheiterter Spitzenkandidat für die Hamburger SPD im Wahlkampf 2008. Eine Bierkiste beschwert einen Schwung Hakverdi-Plakate in einer Wanne voll Wasser, feucht kleben ist wichtig, sonst gibt’s Falten, erklärt Springborn.

Mit drei weiteren Jusos hat sich der Student an diesem Abend zum Dienst für die Partei getroffen, Hakverdi selbst muss diesmal wegen einer Wahlveranstaltung passen. Eine halbe Stunde später schwappt der Kleister-Eimer bedrohlich im Kofferraum eines betagten Ford Fiesta, die Jusos fahren die SPD-Stellwände der Umgebung ab, um 75 neue Poster zu kleben. Sie arbeiten akkurat, wie gelernte Tapezierer streifen sie jedes Poster mit einer Bürste glatt. „Das muss vernünftig aussehen, sonst beschweren sich die Leute“, sagt Springborn. Anstrengend? „Klar“, sagt Springborn, „aber kein Vergleich mit dem Auftakt im März. Damals mussten wir erst mal das Eis von den alten Plakaten kratzen.“

SPD-Wahlkampf in Harburg, das bedeutet vor allem Handarbeit, viel Handarbeit. Es gibt keine Werbeagenturen, die Konzepte entwerfen oder Hostessen stellen. Stattdessen schreibt das Willy-Brandt-Haus in Berlin Rechnungen, 482 Euro etwa kosten 1000 Hakverdi-Plakate, viel Geld bei einem Wahlkampfbudget von rund 40.000 Euro. Jeder Metin-Hakverdi-Kuli kostet 17 Cent, klar gäbe es in der globalisierten Welt Firmen, die deutlich günstiger produzieren würden. Aber wer für den Mindestlohn kämpft, darf solche Deals nicht machen, findet Hakverdi. An seine Schlagzahl, an sein Tempo müssen sich viele Genossen erst einmal gewöhnen; Kampfgeist rostet nach ungefährdeten Siegen über Jahrzehnte ein.

15.000, das ist so etwas wie die magische Zahl im Kampf um Berlin. 15.000 Klingeln hat sich Hakverdi mit seinem Team vorgenommen, rund 6000 will er selbst übernehmen, 9000 seine ehrenamtlichen Helfer. Den Klingelmarsch durch die Institutionen organisiert Muammer Kazanci. Auch Kazanci, wie Hakverdi Jurist aus Wilhelmsburg mit türkischen Wurzeln, arbeitet ehrenamtlich. In wochenlanger Kleinarbeit hat er die Klingel-Routen ausgetüftelt. Die Datenbasis lieferte die Berliner SPD-Zentrale, die bundesweit die Wahllokale ermittelt hat, in denen die SPD 2009 im Vergleich zu 2005 besonders viele Wähler ans Lager der Nicht-Wähler verloren hat. Genau diese Sympathisanten will Hakverdi mit Besuchen für den Urnengang mobilisieren.

Am Rande eines SPD-Festes in der Bergedorfer City zeigt Kazanci sein Wahl-Tagebuch. Sein knallrotes T-Shirt trägt den Slogan „Campaigner Team Metin Hakverdi“. Campaigner ist sein offizieller Titel im Wahlkampf, die SPD will offenbar auch sprachlich von Obama lernen. Während der Kandidat ein paar Meter weiter seine Flyer verteilt, blättert Kazanci durch sein Büchlein, zeigt die eingeklebten Fotos von Klingeltouren. Mittendrin pappen Urlaubsbilder von der Schwarzmeerküste und ein nagelneuer 100-Euro-Schein; kleine Motivationshelfer, wie er sagt. Motivation, gute Laune, das ist wichtig in diesen Wochen zwischen Umfragetiefs und Steinbrück-Mittelfinger. Schlechte Nachrichten aus dem Berliner Politikbetrieb spornen Kazanci nur noch mehr an: „Wenn wir 60 Prozent hätten, müssten wir ja gar nicht mehr kämpfen.“

Natürlich geht in einem Wahlkampf nicht alles glatt. Olaf Scholz kommt ausgerechnet an einem der heißesten Sommertage nach Harburg. Bitter für Hakverdi, denn „König Olaf“ ist eigentlich ein Publikumsmagnet. So aber ist nur etwa jeder dritte der im Kulturzentrum Feuervogel aufgestellten 250 Stühle besetzt. Als die Moderatorin Hakverdi und Scholz vorstellen will, pfeift eine Rückkopplung durch den Saal. Zum Auftakt der Fragerunde schnappt sich ein deutlich alkoholisierter Mann im grauen Jackett das Mikro und scheitert schon bei der Anrede: „Metin Hakdi, Hakver, was ist das denn bloß für ein Name?“ Dann drehen sich die Fragen vor allem um die geplante Schließung der Katholischen Schule Neugraben. Mehrere empörte Eltern fordern, die Politik solle sich endlich einschalten. Scholz und Hakverdi können nur darauf hinweisen, dass der Senat bei einem privaten Schulträger ziemlich machtlos sei. Das ist zwar ehrlich, löst aber keine Beifallsstürme aus.

Ein paar Wochen später hat der Wahlkampf Spuren hinterlassen. „Ich bin ganz schön kaputt“, sagt Metin Hakverdi den Schülern der Wilhelmsburger Stadtteilschule, die ihn für ein Interview in seinem Abgeordnetenbüro in der Veringstraße besuchen. Gegenüber seinen Wahlkampfplakaten, die an der Wand hängen, wirkt er um Jahre gealtert. Die vergangenen Nächte waren schlecht, Heuschnupfen plagt ihn. Doch dieser Termin ist ihm wichtig, auch wenn die Schülerzeitung mit dem Interview erst nach der Wahl erscheinen wird.

Hakverdi spricht über Bildungsgerechtigkeit, preist als Erfolg, dass der SPD-Senat die Studiengebühren wieder abgeschafft hat: „Stellt euch vor, eure Eltern müssten für eure Schulen zahlen.“ Die Schüler berührt das keineswegs. Eine Schülerin klagt stattdessen über den Stress durch die langen Schultage und sagt dann sehr entschlossen: „Einen Politiker, der sich für die Ganztagsschule einsetzt, würden wir nicht wählen.“ Für einen Moment ist da sogar der wortgewandte Hakverdi sprachlos.

Er selbst ist doch ein Beispiel für eine Aufsteigerkarriere. Die Eltern schickten ihn auf das Gymnasium, trotz fehlender Empfehlung. Er machte Abi, studierte Jura in Kiel, konnte sogar für ein Jahr dank eines Stipendiums in die USA. „Meine Eltern“, sagt er, „haben mir immer gesagt, dass Bildung das Wichtigste ist.“ Der Wille, es nach ganz oben zu schaffen, führt ihn nun in das Duell um Berlin gegen Herlind Gundelach, Kandidatin der CDU. Gundelach, 64, hatte schon als Referentin für die CDU-Bundestagsfraktion in Bonn gearbeitet, als Metin Hakverdi noch in die Wilhelmsburger Kita ging. Sie diente später der damaligen Umweltministerin Angela Merkel, gilt seitdem als Vertraute der Kanzlerin. Vor allem aber taugt die ehemalige Senatorin nicht zum Feindbild der Linken. Sie plädiert für gerechte Löhne, für Klimaschutz – und sie wohnt in Wilhelmsburg. Und das auch noch in einem Passivhaus.

Der Terminkalender will es, dass die beiden im August zu drei Wahlkampfduellen binnen sechs Tagen aufeinandertreffen. Zum Auftakt bitten die Wirtschaftsvereine von Harburg und für den Hamburger Süden die Direktkandidaten ins Privathotel Lindtner. Im gediegenen Festsaal werden Sekt und Kanapees gereicht. Für Hakverdi ist die Einladung angesichts der roten Steuerpläne in etwa so attraktiv wie für einen grünen Veggie-Day-Kämpfer ein Termin bei der Fleischer-Innung.

Er ist spät dran, eilt an dem Genossen und Finanzexperten Paulsen vorbei, der ihm noch schnell ein Detail zu den Vermögenssteuerplänen der SPD erklären will. Aber Hakverdi braucht keine Hilfe, der Steuerfalle entkommt er mit dem schlichten Hinweis, dass der Staat mehr Einnahmen brauche, um endlich die Milliarden-Schulden zu tilgen. Als er dann noch erklärt, wie ungerecht die Befreiung von immer mehr Unternehmen von der Strompreis-Umlage für erneuerbare Energien sei („Jetzt muss Ihnen ein Sozi sagen, dass der Markt kaputt ist“), kriegt sich die Moderatorin, Geschäftsführerin einer großen Bäckerei, vor Begeisterung kaum noch ein. Ausgerechnet ein SPD-Mann kämpft für die Konkurrenzfähigkeit des Mittelstands.

Drei Tage später gibt es statt Sekt Mineralwasser aus 1,5-Liter-Plastikflaschen. Im Laurens-Janssen-Haus, das sich zwischen die Hochhäuser im sozialen Brennpunkt Kirchdorf-Süd duckt, liegen „Stop“-Schilder auf den Tischen. Die zum Teil geistig behinderten Gäste sollen sie hochhalten, wenn die Politiker auf dem Podium in ihre Fachsprache verfallen. Zuvor erklärt eine Mitarbeiterin das Wahlrecht, der erste Satz ihrer Präsentation heißt: „In Deutschland gibt es keinen König.“ Der Saal ist ein Heimspiel für Hakverdi, schließlich hat er sich 2012 mit Erfolg gegen Schließungspläne für die Einrichtung engagiert. „Deshalb ist es wichtig, dass wir den sehr reichen Leuten Geld abnehmen, damit es so ein wichtiges Haus weiter geben kann“, sagt Hakverdi. Als Anwalt der sozial Schwachen kann er an diesem Nachmittag locker punkten.

20 Stunden später sehen sich Gundelach und Hakverdi schon wieder. Wie vor jeder Wahl treten auch diesmal die Direktkandidaten von SPD, CDU, Grünen, FDP und Linkspartei in der Harburger Handelsschule auf. Auf dem Flachbildschirm wird ein „spannender und informativer Verlauf der Diskussion“ gewünscht, in Schaukästen hängen Urkunden für besondere Leistungen im Klima- und Umweltschutz. Der Schulleiter fahndet Minuten vor Beginn vergebens im Saal nach dem engagierten Moderator, ein Kollege muss schließlich ran. Der beklagt zunächst den „langweiligen Wahlkampf“, ruft dann seinen Schülern zu: „Aber das wird sich heute ändern, oder?“ Irgendwie verpufft sein Appell, als jeder der fünf Direktkandidaten vier Minuten über sich selbst und sein Programm referieren darf, scheint die Hälfte des Auditoriums schon weggedöst. Immerhin, der Hinweis Hakverdis, die SPD habe die Studiengebühren wieder abgeschafft, sorgt für Beifall.

Gut drei Wochen später ist dann endlich der Tag der Entscheidung. 22. September, Bundestagswahl. Bevor Hakverdi am Mittag seinen Stimmzettel im Wahllokal der Kita Tigerente ausfüllt, hat er wichtige Multiplikatoren abtelefoniert, vor allem Vereinsvorsitzende: „Sagt euren Leuten, dass sie wählen gehen sollen.“ Dann nimmt er sich noch eine Stunde Zeit, um den Abendblatt-Reporter in seinem Miet-Smart mit dem „Metin Hakverdi“-Schriftzug durch Wilhelmsburg zu chauffieren. Er deutet auf die Wohnung an der Georg-Wilhelm-Straße, in der er aufgewachsen ist. 83 Quadratmeter, vier Zimmer, Balkon. Ein paar Häuser weiter wohnt er jetzt auf 56 Quadratmetern in einem bescheidenen 50er-Jahre-Bau. Er spricht über die Vision eines „Kulturkanals“ auf der Elbinsel. Wilhelmsburg habe enormes Potenzial. Jetzt müsse man das „zarte Pflänzchen Kreativwirtschaft“ nur weiter entwickeln. Eine HafenCity könne auch in Wilhelmsburg entstehen, nur kleiner und ohne elitäres Denken.

Vier Stunden später starren 40 Genossen im Bergedorfer DGB-Haus gebannt auf die Leinwand. Es sind die Treuen, die über Monate für die SPD getrommelt haben. Kann es vielleicht doch noch eine Sensation geben, den erhofften Wechsel zu Rot-Grün? Um 18 Uhr ist jede Feierlaune verflogen, Fassungslosigkeit herrscht angesichts der Prognose von 42 Prozent für Angela Merkel und 26 Prozent für Steinbrück. Zwei Minuten später steigt Metin Hakverdi aus seinem Smart, seine Stimmung ist so dunkel wie sein Anzug. Er kennt erste Prognosen seit 16 Uhr, weiß, dass es jetzt ganz knapp werden kann. Denn natürlich wird Rivalin Gundelach vom Merkel-Boom profitiert haben.

Kurz vor 19 Uhr versammeln sich alle um das Notebook mit den aktuellen Zahlen des Statistikamts Nord. Erste Wahllokale haben schon geliefert. Gundelach liegt vorn. Hakverdi geht raus, schnorrt sich eine Zigarette. War am Ende doch alles vergebens? Die Touren zu den Rosenzüchtern in den Vier- und Marschlanden, zu den Schützenvereinen in Harburg, zu den Landwirten in Bergedorf, den Sportvereinen in Wilhelmsburg? Die mehr als 1000 Termine allein in den vergangenen sieben Monaten mit drei Paar durchgelaufenen Schuhen? Der Schlussspurt mit am Ende sogar 17.000 Hausbesuchen, das Plakatekleben um 2 Uhr morgens?

Vor allem blitzt jetzt wieder die eine Frage auf, die er sich in den vergangenen Wochen so oft gestellt hat. Ist sein Wahlkreis nach Wehner und Klose wirklich reif für einen Abgeordneten mit türkischen Wurzeln? War sein Nachname bei konservativen SPD-Sympathisanten am Ende doch eine Bürde? Klar, in seinem Kiez ist er unter den türkischstämmigen Bürgern ein Star, der türkische Fleischer neben seinem Wahlbüro hat sein Schaufenster mit einem Hakverdi-Plakat dekoriert. Aber in Harburg und Bergedorf haben sie sich bei den Hausbesuchen auch schon mal anhören müssen: Wieso stellt ihr denn einen Türken auf?

Allein Kazanci, der Campaigner, strahlt unverdrossen Zuversicht aus. „Keine Sorge“, sagt er, „zuerst werden die ländlichen Gebiete ausgezählt. Da ist die CDU traditionell stärker.“ Und in der Tat wendet sich langsam das Blatt. Als Hakverdi seinen Smart Richtung Harburger Herbert-Wehner-Haus steuert, liegt er mit 800 Stimmen vorn. Doch Gratulanten wehrt er weiter ab: „Denkt an Stoiber, der hat sich 2002 auch schon als Wahlsieger gefühlt.“ Erst bei der zentralen SPD-Wahlparty im Kurt-Schumacher-Haus lässt er sich feiern, mit 40,4 Prozent ist er der heimliche Star der Wahlnacht. Seine Herausforderin Gundelach (35,6 Prozent) hat er klar distanziert, sogar mehr Erststimmen geholt als die Legende Klose 2009 (39 Prozent). Nur Hakverdi knackt in Hamburg die 40-Prozent-Marke. Der Kämpfer ist angekommen. In seiner Partei. Bei seinen Wählern. Und in Berlin.