Das Gebäude in der Humboldt-Universität wurde evakuiert, aber keine Bombe gefunden. Gül warb für EU-Vollmitgliedschaft - Merkel dämpfte.

Berlin. Die Türkei hält an ihrem Ziel fest, in absehbarer Zeit Vollmitglied der Europäischen Union zu werden. „Wir möchten Teil einer EU sein, die ihre globale Verantwortung gebührend wahrnimmt“, sagte der türkischer Staatspräsident Abdullah Gül am Montagabend in seiner Europa-Rede in der Berliner Humboldt-Universität. Die Rede konnte wegen einer Bombendrohung erst mit mehrstündiger Verspätung beginnen. Dafür hatte Gül sogar Anschlusstermine bei Bundespräsident Christian Wulff verschoben.

Der hat die Unannehmlichkeiten für den türkischen Staatspräsidenten bedauert. Er finde es großartig, dass Gül seine große Rede gehalten habe, sagte Wulff am späten Abend bei einem Staatsbankett zu Ehren von Gül im Berliner Schloss Bellevue. Der türkische Präsident selbst ging in seiner frei gehaltenen Rede nicht näher auf den Zwischenfall ein, betonte aber: „Wir haben wirklich eine außerordentliche Beziehung zwischen unseren Ländern.“

Geplant war die Europa-Rede von Gül im Audimax der Humboldt-Universität. Ein Anrufer hatte über den Polizeinotruf 110 jedoch vor einem Sprengsatz in der Universität gewarnt, wo mehrere Hundert Menschen die europapolitischen Vorstellungen Güls hören wollten. Daraufhin wurde das gesamte Gebäude geräumt. Nach mehreren Stunden gab die Polizei das Haus wieder frei. Gül redete dann in einem kleineren Saal vor geladenen Gästen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekräftigte derweil ihre Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. „Wir wollen die Vollmitgliedschaft der Türkei nicht“, sagte Merkel am Abend im mittelhessischen Alsfeld. „Aber wir wollen die Türkei als wichtiges Land nicht verlieren.“ Merkel sagte, die EU müsse Mittel und Wege finden, ein enges politisches Verhältnis zur Türkei aufzubauen.

Gül lehnte indes die von der Bundesregierung favorisierte „privilegierte Partnerschaft“ ab. Zusagen müssten eingehalten werden, mahnte er mit Blick auf die Gespräche mit Brüssel. Zugleich warnte Gül davor, den Beitrittsprozess mit „künstlich konstruierten Begründungen und Hindernissen“ aufhalten zu wollen. Vielmehr sollte man die Chance sehen, die Türkei als „strategischen Multiplikator“ zu gewinnen.

Anders als führende Unions-Politiker ging Wulff auf die Forderung ein und betonte, die Verhandlungen seien sicherlich ergebnisoffen, würden aber schon mit dem Ziel eines Beitritts zur EU geführt. „Auch die EU muss aktiv daran arbeiten, dass der Beitrittsprozess erfolgreich fortgesetzt wird und sicherstellen, dass sie selbst aufnahmefähig ist, wenn die Türkei eines Tages alle Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllt“, unterstrich er.

Gül zeigte Verständnis für die Sorgen Europas. Aber angesichts noch jahrelanger Verhandlungen stelle sich jetzt nicht die Frage eines Beitritts. Das könne man mit Besonnenheit bereden, wenn es soweit sei. Auch würde die Türkei ein Nein respektieren, sollte in späteren Referenden in EU-Staaten eine Aufnahme abgelehnt werden. Dann allerdings werde sein Land möglicherweise andere Chancen und Möglichkeiten in Betracht ziehen.

Scharfen Widerspruch erntete Gül für seine Rüge an der deutschen Ausländerpolitik. Das 2007 verschärfte deutsche Einwanderungsrecht widerspreche den Menschenrechten, sagte der Staatspräsident zum Auftakt. Nach der umstrittenen Reform hängt der Ehegatten-Nachzug seit 2007 vom Bestehen eines Deutschtests in der Türkei ab. Wulff hingegen verteidigte die deutsche Position im Sprachenstreit. „Niemand will die Assimilation“, versicherte der Bundespräsident seinem Staatsgast.

Aber ohne grundlegende Sprachfähigkeiten sei eine Integration nicht möglich, fügte Wulff hinzu. Ähnlich äußerten sich Regierungssprecher Steffen Seibert, die für Integrationsfragen zuständige Staatsministerin Maria Böhmer und Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (beide CDU).

Angesichts der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei rief der Bundespräsident die deutschen Firmen zu mehr Investitionen in dem Land auf. Gutes Beispiel könne hier der Energiesektor sein, sagte Wulff auf dem Deutsch-Türkischen Wirtschaftsforum. Die Türkei sei mit einem mehr als zehnprozentigen Wirtschaftswachstum die derzeit wettbewerbsfähigste und innovativste Volkswirtschaft in Europa, lobte der Bundespräsident. Er appellierte an die Bundesregierung, Erleichterungen bei der Visa-Vergabe an türkische Geschäftsreisende zu prüfen. Dafür hatte sich Gül zuvor stark gemacht.

Am Morgen hatte Bundespräsident Wulff im Schloss Bellevue Gül mit militärischen Ehren empfangen und die enge und intensive Freundschaft beider Länder gelobt. Danach war Gül mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) zusammengetroffen. Am Dienstag setzt Gül seinen Besuch unter anderem mit einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fort. Anschließend reist er mit Wulff nach Osnabrück, der niedersächsischen Heimatstadt des Bundespräsidenten. Der Staatsbesuch dauert bis Mittwoch. (dapd)