Die Integrationsbeauftragte, Maria Böhmer (CDU), hält Multikulti für gescheitert und will Zuwanderer nach Sprachkönnen und Bildung auswählen.

Berlin. Das Amt der Integrationsbeauftragten gibt es seit 1978. Maria Böhmer ist jedoch die erste, die im Range einer Staatsministerin im Bundeskanzleramt die Aufgabe wahrnimmt. Seit fünf Jahren ist sie Ansprechpartnerin für die mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Hamburger Abendblatt:

Frau Böhmer, wo hört Toleranz für Sie auf?

Maria Böhmer:

Toleranz endet, wenn es keine Gleichberechtigung von Mann und Frau gibt und die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit angegriffen werden. Die Menschenwürde ist für mich unverhandelbar. Das sind klare Grundwerte in Deutschland. Wer die verletzt, darf nicht mit Toleranz rechnen.

War die deutsche Integrationspolitik bisher zu tolerant?

Böhmer:

Wir hatten Jahre lang gar keine aktive Integrationspolitik. Die einen glaubten an multikulturelle Beliebigkeit, die anderen wollten nicht sehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Heute wissen wir, dass Zuwanderung und Integration Hand in Hand gehen müssen. Angesichts der Versäumnisse der vergangenen Jahre müssen wir viel nachholen. Deutschland gehört neben den USA, Kanada und Australien zu den größten Einwanderungsländern der Welt. Aber die Deutschen haben dafür bisher zu wenig Bewusstsein gehabt. Wir wissen erst seit wenigen Jahren, dass wir einen Migrantenanteil von rund 20 Prozent haben.

Was muss sich ändern?

Böhmer:

Wir haben gesetzliche Regeln, die beispielsweise verpflichtende Integrationskurse für Zuwanderer vorsehen. Was uns fehlt, sind konkrete Prüfmechanismen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Verpflichtungen zur Integration in den Ausländerämtern nicht nachhaltig genug kontrolliert werden.

Inwiefern?

Böhmer:

Wir wissen oft nicht, warum ein Migrant nicht zum verpflichtenden Deutschkurs erscheint. Verweigert er sich, ist er krank, muss er jemanden in der Familie pflegen, oder hat er ein Arbeitsangebot angenommen? Wir haben den Erwerb der deutschen Sprache über die Integrationskurse bisher mit insgesamt rund einer Milliarde Euro gefördert. Bis Ende des Jahres werden mehr als 700 000 Menschen an den Integrationskursen teilgenommen haben. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer macht dies freiwillig. Gerade im Interesse derjenigen, die sich integrieren wollen, müssen wir nachhaken, wenn jemand das Angebot nicht annimmt.

Multikulti ist gescheitert, sagt die Bundeskanzlerin. Stimmen Sie dem zu?

Böhmer:

Angela Merkel hat recht. Multikulti ist gescheitert. Mit einer Laissez-faire-Haltung kann man Integration nicht bewältigen.

Wie erklären Sie sich, dass Merkel CSU-Chef Horst Seehofer den Rücken stärkt, wenn er vor Zuwanderung aus "anderen Kulturkreisen" warnt?

Böhmer:

Seehofer hat sich ja ein Stück weit korrigiert. Grundsätzlich sollten wir uns bei der Integrationsdebatte an Daten und Fakten halten. Ich habe etwas gegen Pauschalisierungen. Damit wird man weder der Situation von Migranten gerecht, noch der tatsächlichen Zuwanderungssituation. Diese Debatte ist absolut bizarr.

Gibt es also keine Ausländergruppen mit Integrationsschwierigkeiten?

Böhmer:

Wir können Integrationsprobleme nicht pauschal an der Herkunft oder der Religion festmachen. Die Gastarbeiter, die ab den 50er-Jahren zu uns kamen, waren meist sehr gering qualifiziert. Sie holten ihre Familien nach und blieben. Die geringe Qualifizierung setzte sich dann oft über Generationen fort. Die Kinder und Enkelkinder von türkischen und italienischen Gastarbeitern haben die größten Bildungsschwierigkeiten und die schlechtesten Schulergebnisse. Es gibt aber auch eine Studie, wonach türkischstämmige Kinder bei gleicher Leistung und ähnlichem sozialen Hintergrund häufiger auf das Gymnasium wechseln als deutsche Kinder. Dieses Ergebnis ist ein weiterer Beleg: Pauschalisierungen sind fehl am Platz.

Bundespräsident Christian Wulff spricht bei den Problemen mit Türken vom Verharren in Staatshilfe, von Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. Übertreibt er?

Böhmer:

Es gibt solche Probleme. Ich registriere mit Erstaunen, dass manche türkische Familie in Verhältnissen lebt, wie sie vielleicht vor Jahrzehnten in ihrer Heimatregion üblich waren. Damit meine ich ein geradezu archaisches Rollenverhalten. Es kann nicht sein, dass manche türkische Frauen oder aus anderen Herkunftsländern bei uns immer noch zur Ehe gezwungen werden und in Ferienzeiten immer noch Heiratsverschleppungen stattfinden. Wir bereiten gerade ein Gesetz vor, das Zwangsverheiratungen als eigenen Straftatbestand unter Strafe stellt. Zugleich wollen wir Mädchen helfen, die in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen: Wenn sie im Land ihrer Eltern zwangsverheiratet werden, wollen wir ihnen ein Rückkehrrecht nach Deutschland geben.

Regierung und Opposition wollen Zuwanderung in Zukunft besser steuern. Gelingt das mit einem Punktesystem, wie es Wirtschaftminister Brüderle fordert?

Böhmer:

Das Punktesystem hat auch Nachteile. In Kanada ist die Arbeitslosigkeit bei den nach Punktesystem Zugewanderten höher und das Gehaltsniveau geringer als im Durchschnitt. Eine Eins-zu-Eins-Übernahme des Punktesystems wäre nicht angemessen. Wir müssen unsere Einwanderungskriterien nach schulischer und beruflicher Qualifikation, nach Sprachfähigkeit und der Arbeitsmarktsituation richten. Wir müssen in der Integration einen Paradigmenwechsel einleiten und uns zu einer qualifizierten Zuwanderung bekennen.

Sind nichtqualifizierte Zuwanderer dann noch in Deutschland willkommen?

Böhmer:

Es würde eine eindeutige Auswahl stattfinden. Wir würden nicht jeden Bewerber nehmen, sondern nach Kriterien auswählen, genauso ist das in Kanada der Fall. Deutschland wird lernen müssen, auch Nein zu sagen.

Würde Deutschland auch Nein sagen zur Mutter eines eingewanderten Ingenieurs, die immer nur Hausfrau war?

Böhmer:

Es bleibt bei der Möglichkeit des Familien- und Ehegattennachzugs - und natürlich auch bei der humanitären Zuwanderung.

Die Bundesregierung glaubt an 300 000 zusätzliche Fachkräfte im Arbeitsmarkt, wenn die Abschlüsse von bereits in Deutschland lebenden Zuwanderern leichter anerkannt werden. Sind Sie sicher, dass die Handelskammern mitziehen?

Böhmer:

Wir wollen und müssen unser Qualifikationsniveau halten. Das wissen auch die Handelskammern. Zuwanderer brauchen einen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren für ihre Berufe. Deutschland wird damit im Wettbewerb um die besten Zuwanderer attraktiver. Ich hoffe, dass das Gesetz in der ersten Jahreshälfte 2011 in Kraft treten kann.

Sollten sich die Deutschen langsam an den Gedanken ausländischer Lehrer und Ärzte gewöhnen?

Böhmer:

Wir haben bereits ausländische Lehrer und Ärzte, aber noch viel zu wenige. Es kann nicht sein, dass eine ausländische Lehrerin für Mathematik oder Physik hier lebt, aber nicht unterrichten darf. Wir suchen ja händeringend nach Lehrern in diesen Fächern. Die Bundesländer, die für die Anerkennung von Lehrern zuständig sind, müssen dringend eigene gesetzliche Regelungen auf den Weg bringen. Auch suchen wir in etlichen Regionen verzweifelt nach Ärzten. Dabei haben wir zugewanderte, hoch qualifizierte Ärzte, etwa aus Osteuropa. Diese Ärzte haben enorme Probleme, Stellen an Krankenhäusern zu bekommen. Sie dürfen keine Praxis eröffnen, weil ihre Zulassung an der Staatsbürgerschaft hängt. Das ist weder nachvollziehbar noch zeitgemäß.

Warum weigert sich dann der Staat, Vorbild zu sein und eine Migrantenquote im öffentlichen Dienst einzuführen?

Böhmer:

Der Staat ist in vielen Bereichen bereits Vorbild. Hamburg hat sich zum Ziel gesetzt, in der Verwaltung den Anteil von Bewerbern und Auszubildenden mit Migrationshintergrund bis 2011 auf 20 Prozent zu steigern und hat entsprechende Maßnahmen ergriffen. Eine solche Zielvorgabe sollten sich die anderen Länder und der Bund zum Vorbild nehmen. Eine Zielvorgabe halte ich für das bessere Instrument als eine Quote.